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Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht

Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht

Titel: Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Klußmann
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bei den Missbräuchen interessiert. Je weniger solcher Beamter, desto besser. Kein Adel entspricht überhaupt weniger als der russische seinem eigentlichen Zweck, auf eigenen Füßen zu stehen und selbständig das Recht gegen unten und oben zu wahren. In allen übrigen Ländern wird der Adel erteilt nach der Willkür des Monarchen, in Russland streng nach dem Gesetz. Jeder, welcher die fünfte Rangklasse erreicht, erlangt dadurch den erblichen Adel; die Kinder des Obersten und des Kollegienrates werden Edelleute; und noch mehr: Der älteste Erbadel geht verloren, sobald der Besitzer in drei Generationen nicht im Staatsdienst einen Tschin** oder Rang erhalten hat. Dadurch ist der Adel ganz und gar abhängig von der Regierung, und es kann ihm nicht leicht einfallen, irgend gegen diese Opposition zu machen.
    Ebenso wenig gibt es hier einen Bürgerstand. Die erste Klasse der Kaufleute tritt in den Tschin des Adels; die kleineren sind Muschiks***, obwohl oft Millionäre, und stehen auf derselben Bildungsstufe wie der Bauer, dem sie in Tracht und Sitte gleich bleiben. Auch die Fabriktätigkeit ist ganz in den Händen des grundbesitzenden Adels. Russland zerfällt sonach eigentlich nur in zwei sehr ungleiche Teile, die Klasse der Gebildeten und »die schwarze Brut«, tschorni narod, erstere zählt höchstens eine halbe, letztere sechzig Millionen Menschen.
    Die plötzlich und gewaltsam eingeführte, westeuropäische Zivilisation ist nirgends in die unteren Schichten der Gesellschaft eingedrungen. Eine kleine Zahl französisch erzogener, im Luxus aufgewachsener, elegant gebildeter, uniformierter und besternter Russen tritt ohne jede Vermittlung neben der an Zahl hundertfach überlegenen Masse der bärtigen, unwissenden, kräftigen, frommen und dabei gelehrigen Bevölkerung auf. In Russland stehen die Unterschiede schroff nebeneinander: Paläste neben Hütten, prachtvolle Städte in öder Gegend, eine hundert Meilen lange Eisenbahn, die zwischen Anfang und Endpunkt keine Stadt berührt.
    Man muss gestehen, dass die russischen Kaiser Unglaubliches geleistet haben. Eine der prachtvollsten Hauptstädte erhebt sich über dem Sumpf der Newa, obwohl die Fluten derselben sie zu ertränken drohen, mächtige Flotten in Meeren, die sieben Monate lang zugefroren sind, ein vortreffliches Heer geschaffen, wo jeder Mann ein zinstragendes Kapital seines Herrn ist, Museen mit den Meisterwerken aller Länder, wo das Volk hundert Meilen umher nur die schwarzen Heiligenbilder schätzt, parkettierte Fußböden, aber halsbrechendes Straßenpflaster, kurz bis ins Detail schroffe Gegensätze ohne Vermittlung.
    Die Russen werden auch noch lange nicht ohne die Hilfe der Fremden fertig werden, namentlich nicht ohne die Beständigkeit, das Geschick und die Pflichttreue der Deutschen, denn nur langjährige und eiserne Strenge wird redliche, russische Beamte schaffen können. Vor allem muss erst der Klerus für die Aufklärung des Volkes gewonnen und selbst erzogen werden. Plötzlich und gewaltsam ist hier nichts zu machen, aber das Bestreben eines Jahrhunderts wäre wohl kein zu geringer Preis für eine wirklich nationale, russische Entwicklung.
    * Gemeint ist die mongolische Fremdherrschaft von 1237 bis 1480.
** Tschin – Rangstufe im russischen Beamtenwesen.
*** Muschik – Mann, hier im Sinne eines einfachen Mannes vom Lande.

Bombe vor die Beine
    Mit verspäteten und halbherzigen Reformen
wie der Aufhebung der Leibeigenschaft versuchte
Alexander II., sein Reich zu modernisieren.
Dann geriet er ins Visier von Terroristen.
    Von Christoph Gunkel
    A ls sich der Rauch der Explosion gelegt hat, will der Zar dem Mann in die Augen sehen, der ihn soeben umbringen wollte. Alexander II. steigt aus seiner Kutsche, deren Fenster zersplittert sind. Stapft an zwei Leibgardisten und Pferden vorbei, die im Schnee verbluten. Ignoriert seine Soldaten, die ihm zurufen, der Zar solle lieber fliehen, schnell, schnell, so schnell es nur gehe. Dann steht der mächtigste Mann Russlands vor dem Attentäter, den die verbliebenen Leibgardisten überwältigt haben, und wirkt ziemlich machtlos, als er mit kindlich-naivem Zorn fragt: »Hast du die Bombe geworfen? Das ist ja wirklich unglaublich!«
    Ratlos blickt der Zar auf einen unscheinbaren Mann mit Fellmütze und grober Stoffjacke. Woher kommt dieser Hass, der gerade ihn trifft, der sein Land modernisiert hat wie kaum ein anderer Herrscher? Warum wird er, der Bauern und Studenten ein weit freieres und erträglicheres Leben

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