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Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht

Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht

Titel: Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Klußmann
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die Bauern sofort das freie Bürgerrecht, mussten aber in einer Übergangszeit von zwei Jahren weiterhin für ihre Grundherren arbeiten und ihnen Abgaben zahlen. Und da wurde den einstigen Leibeigenen sofort der Besitz ihres Hauses zugesprochen, doch das Land, das sie bisher beackert hatten, mussten sie erst selbst erwerben. Weil sie kein Eigenkapital besaßen, lieh ihnen der Staat für maximal 49 Jahre das Geld, verlangte es aber vollständig zurück – zuzüglich satter sechs Prozent Zinsen.
    Die Grundbesitzer und von ihnen selbst ernannte spezielle Schlichter handelten mit den Dorfgemeinden den Kaufpreis für das Land aus. Eine Einladung zum Betrug, denn transparente Marktpreise gab es nicht. Historiker wie Alexander Aiwasow rechneten später nach, dass die kaufmännisch unerfahrenen Bauern oft das »Dreifache der Summe des Bodenwerts« zahlten. Viele blieben zudem für Jahrzehnte faktisch unfrei, denn solange das Land nicht abbezahlt war, konnten sie es auch nicht verlassen. Dazu kam eine weitere, überaus tückische Sonderregelung, die der Adel in letzter Minute durchgesetzt hatte: Verzichteten die Bauern freiwillig auf drei Viertel der ihnen zugesprochenen Landfläche, erhielten sie das restliche Viertel sofort und kostenlos. Zehntausende schluckten diesen Köder und endeten in Armut. Denn ihre kleinen Parzellen warfen zu wenig Ertrag ab.
    Alexander II. ließ sich davon nicht entmutigen. Er hatte zwar solche Entwicklungen weder gewollt noch vorhergesehen. Aber trotz der Konstruktionsmängel seiner Bauernbefreiung glaubte er, Historisches geleistet zu haben – und trieb mit Hochdruck weitere Reformen voran. Alles kam auf den Prüfstand: Justiz, Verwaltung, Bildungswesen. Jedes Mal war es ein zähes Ringen, doch am Ende hatte sich Russland ein wenig dem Standard Europas angenähert. Zum ersten Mal gab es Anwälte und öffentliche Gerichtsverhandlungen. Das Vertrauen in die Justiz wuchs, die Verwaltung wurde dezentralisiert und effizienter, die Prügelstrafe abgeschafft. Das Militär bekam seine allgemeine Wehrpflicht, die Universitäten ihre volle Autonomie, und das Schienennetz wurde um das 20-Fache ausgebaut.
    Doch wieder erntete der Zar wenig Dankbarkeit von denen, die von den Änderungen profitierten. Womöglich kam seine Reform-Rosskur zu spät. Auch war er dem konservativen Adel, immer noch Stütze des Regimes, weit entgegengekommen. Studenten und sozialistische Gruppierungen empfanden den Umbau des Staates jedenfalls als nicht schnell und weitgehend genug. Der Zar hatte eine Veränderung angestoßen, deren Eigendynamik er bald nicht mehr kontrollierte. Der Trend ging nicht mehr zur Reform, sondern zur Revolution.
    An den Universitäten und in geheimen politischen Zirkeln träumten junge Russen längst von einer Zeit nach dem Zarentum. Wahlweise forderten sie ein Parlament, eine Verfassung, Demokratie oder gar Sozialismus. Die Moderaten wären mit einer konstitutionellen Monarchie zufrieden gewesen, doch die Radikalen kämpften für die völlige Zerstörung des Systems. Es erschien ihnen zu krank, als dass es noch zu reformieren wäre – die Revolution von 1917 warf ihre Schatten voraus.
    Überall im Land wurden heimlich sozialrevolutionäre Pamphlete gedruckt – und der Zar las dank seiner Agenten ungläubig mit. Unschlüssig, was er tun sollte, schwankte er zwischen autokratischer Härte und weiteren Zugeständnissen. Seine Ministerien besetzte er abwechselnd mit Hardlinern und Reformern. Alexander wurde »angst vor der eigenen Kühnheit«, schrieb eine Freundin der kaiserlichen Familie, »er macht sich zum Verteidiger der Ordnung, die er selbst erschüttert hatte«. Resigniert stattete der Zar 1880 seinen Innenminister Michail Loris-Melikow, Sohn eines armenischen Kaufmanns, mit umfassenden Vollmachten aus. Alexander beauftragte ihn mit einer »Diktatur der Herzen«: Jeder, der die Autokratie in Frage stellte, wurde unerbittlich verfolgt – und doch sollte gleichzeitig über eine Verfassung und ein Parlament nachgedacht werden.
    Das Wüten der Geheimpolizei stärkte jene Kräfte, die ohnehin überzeugt waren, die Verhältnisse schneller mit Bomben als mit Worten verändern zu können. 1879 gründete sich das Terrornetzwerk »Der Volkswille«. Dessen junge Fanatiker ermordeten im ganzen Land Adlige, Polizeichefs und hohe Beamte. Zu den Terroristen gehörten Söhne und Töchter aus der Oberschicht. Auch der Zar stand auf der Todesliste. Vier Anschläge hatte der »Volkswille« bereits auf ihn verübt

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