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Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht

Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht

Titel: Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Klußmann
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ermöglicht hat, nun im Namen dieser Leute verfolgt? Alexander II. findet keine Antwort, wieder einmal. Der Bombenwurf vom 13. März 1881 war bereits der siebte Mordanschlag auf Alexander. Über Jahrhunderte hatte es niemand aus dem Volk gewagt, einem von Gott gesandten Zaren nach dem Leben zu trachten. Doch jetzt schossen einfache Bürger auf ihren Kaiser, sprengten einen Teil seines Winterpalais in die Luft, zündeten Minen auf Bahnstrecken, die er befuhr. Zum ersten Mal war in Russland der Herrscher der Gejagte. Dabei hatte Alexander selbst jenen, die nun seinen Tod herbeisehnten, lange als Hoffnungsträger gegolten.
    Als er 1855 die Zarennachfolge antrat, übernahm er eine tief verunsicherte Großmacht. Das Imperium hatte im Krim-Krieg verheerende Niederlagen erlitten und hinkte den europäischen Staaten wirtschaftlich und sozial hinterher. Während die Leibeigenschaft weiter westlich seit rund einem halben Jahrhundert abgeschafft war, ackerten in Russland noch 50 Millionen Menschen in Unfreiheit – unter ihnen Wladimir Putins Urgroßvater Iwan. Der humanistisch erzogene Alexander II. wollte sein Reich aus dieser Rückständigkeit führen und vom Stigma der Barbarei befreien. Mutig beschloss er, zuerst mit dem größten Übel aufzuräumen: der Leibeigenschaft. Die Zeit drängte. Allein zwischen 1850 und 1854 hatte es 140 Bauernaufstände gegeben.
    Der Kaiser wusste, dass er sich mit seinem Vorhaben unerbittliche Feinde machen würde. Der erzkonservative Landadel war nicht gewillt, die lukrative Ausbeutung kampflos aufzugeben, schließlich lag der Kaufpreis für Leibeigene oft unter dem eines guten Hundes. Vorsichtig versuchte Alexander, seinen Reformplan in Watte zu packen. »Sie werden sicher selbst verstehen, dass das jetzige System leibeigener Seelen nicht unverändert bleiben kann«, sagte er im Frühjahr 1856 gegenüber Adelsvertretern. Dann legte er seinen Köder: »Es ist jedoch besser, es von oben abzuschaffen, als auf den Augenblick zu warten, in dem es von unten abgeschafft wird.« Die Angst vor einer Bauernrevolution sollte den Adel dazu bewegen, über seine Enteignung nachzudenken. Denn selbst die kompromissbereiten Gutsherren ahnten, dass die Bauern nicht befreit werden konnten, ohne ihnen Land zuzuteilen.
    Das Kalkül ging nicht auf. Zwar waren Grundbesitzer in den industrialisierten und weniger fruchtbaren Provinzen des Nordens bereit, Land an Leibeigene zu veräußern. Insgeheim hofften sie, bei der Gelegenheit ihre sandigen und moorigen Böden zu einem guten Preis loszuwerden. Doch die Eigentümer der fruchtbaren Regionen im Süden blieben widerspenstig. Sie arbeiteten nur deshalb in den Reformkomitees mit, um die Pläne zu verschleppen und liberale Kräfte auszubremsen. Eine Bauernbefreiung, klagten sie, werde den Adel ruinieren und das Land in die Anarchie stürzen. Manchmal packte den Zaren angesichts dieses Widerstands die Wut. »Wenn diese Herren sich einbilden, sie könnten mich durch ihre Haltung erschrecken«, schrieb er einem Vertrauten erbost, »dann täuschen sie sich.« Alexander erhöhte den Druck, indem er die Presse in seine Pläne einweihte – so viel Offenheit hatte noch nie jemand gewagt.
    Dennoch mussten die Reformer viele Kompromisse eingehen. Zermürbt von jahrelangen Diskussionen, sprach der Zar Anfang 1861 ein Machtwort: »Ich wünsche, ich fordere und befehle, dass alles bis zum 15. Februar abgeschlossen ist« – und erinnerte den Adel kühl an die »Macht des autonomen Herrschers«. Der Befehl schien zu wirken. Wenige Tage später wurde in Gesetze gefasst, was Alexander in einer bewegenden Rede zur »Überlebensfrage« seines Landes erhoben hatte: Nach mehr als drei Jahrhunderten hatte das Zarenreich die Leibeigenschaft abgeschafft. Nur: Der aufrichtige Wunsch des Zaren nach einer Verbesserung »nicht nur in Worten und auf dem Papier, sondern tatsächlich« erfüllte sich nicht. Während Alexander im Ausland sogar von exilierten radikalen Demokraten wie Alexander Herzen gefeiert wurde, während die Bildungsbürger das Ende der Barbarei beklatschten und 20000 Menschen dem Herrscher vor seinem Schloss zujubelten, blieben die meisten Bauern stumm und misstrauisch.
    Zu oft waren sie betrogen worden, um an Wunder zu glauben. Und das 400-seitige Gesetzeswerk, dessen Bestimmungen ihnen nun in den Kirchen verlesen wurden, weckte mit seiner geschwollen Bürokratensprache und den unzähligen Ausnahmeregeln wenig Vertrauen. Viele Klauseln mussten argwöhnisch machen: Da erhielten

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