Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
Gewehre. Noch schlimmer ist der Mangel an Artillerie und Grananten. Es gibt keine nennenswerte Rüstungsindustrie, und das Eisenbahnnetz reicht für schnelle Truppenverschiebungen nicht aus.
In Ostpreußen gelingt es deutschen Truppen unter dem Kommando von Paul von Hindenburg, Ende August 1914 bei Hohenstein die Zweite Russische Armee einzuschließen und vernichtend zu schlagen. Nachdem im Sommer 1915 deutsche Truppen tief nach Polen, Litauen und Kurland vordringen, erstarrt die Front. Die russische Armee versucht im Frühjahr 1916, die Initiative wiederzuerlangen, erzielt aber kaum Geländegewinne. Seit Beginn des Krieges will Nikolai den Oberbefehl über die Armee an sich ziehen. Rasputin bestärkt ihn in diesem Wunsch. Der Duma-Präsident hingegen warnt: »Indem Sie Ihre geheiligte Person dem Urteil des Volkes aussetzen, legen Sie Hand an sich selbst und führen Russland ins Verderben.« Doch Nikolai bleibt stur. Als Oberbefehlshaber gestalten sich seine Tage gleichförmig. Morgens um halb zehn begibt er sich ins Hauptquartier im heute weißrussischen Mogiljow. Dort tragen Stabsoffiziere ihm die Lage vor, während er eine Zigarette nach der anderen raucht. Anschließend bespricht er sich unter vier Augen mit dem Generalstabschef, der alle Entscheidungen trifft. Wie sein Cousin Willy, der deutsche Kaiser, erweist der Zar sich als einflusslose Galionsfigur. Er hat, wie fast alle gekrönten Häupter seiner Generation, nie gelernt, hart zu arbeiten. Den Rest des Tages verbringt er mit Spaziergängen, Ausfahrten oder auf der Jagd.
Während der Zar im Hauptquartier kitschige Romane liest, bei denen ihm die Tränen kommen, führt die Zarin in Petrograd die Regierungsgeschäfte – und ihr wichtigster Berater heißt Rasputin, genannt »unser Freund«. Sie schreibt Briefe an ihren Nicky, in denen es heißt: »Den Ratschlägen unseres Freundes zu folgen, Geliebter – ich versichere Dir, das ist recht.« Das System wird surreal. Rasputin sagt der Zarin, welcher Minister entlassen werden und welche Offensive gestoppt werden soll. Alix übermittelt es Nicky. Und der verfügt häufig so. Innerhalb von zwölf Monaten tauscht der Kaiser die Innenminister viermal aus, die Kriegsminister zweimal. Über den Einfluss von Rasputin kursieren die abenteuerlichsten Gerüchte. Es hilft auch nicht mehr viel, dass mehrere Männer, unter ihnen ein Verwandter Nikolais, Fürst Felix Jussupow, den Mystiker Ende Dezember 1916 in Petrograd ermorden.
Der Zar ist am Ende seiner Kräfte. Seine Gesichtszüge sind erschlafft, seine Augen wie erloschen. Nikolai verfällt in Trübsinn und erkennt nicht, dass Russland in eine Revolution treibt – ein hoffnungsloser Fall. Er ernennt einen einstigen Protegé Rasputins zum Innenminister, der schlicht verrückt zu sein scheint und angeblich mit Rasputin im Jenseits spricht. Nikolais Mutter und andere Verwandte versuchen den Kaiser dazu zu bewegen, sich von seiner Frau zu trennen. Vergebens.
Im harten Winter 1916/17 werden in Petrograd und anderen Städten die Lebensmittel knapp. Und die Menschen sehnen sich nach Frieden. Als mehr und mehr Arbeiter in den Streik treten, weigern sich am 12. März 1917 die Soldaten der Petrograder Garnison, auf sie zu schießen. Sie schließen sich den Streikenden mit ihren roten Fahnen an. Demonstranten öffnen die Gefängnistore und stecken den Justizpalast in Brand. Die Revolution hat begonnen.
Der Duma-Präsident Michail Rodsjanko telegrafiert an den Zaren: »Es müssen sofortige Maßnahmen ergriffen werden. Die Stunde ist gekommen, in der sich das Schicksal des Landes und der Dynastie entscheidet.« Nikolai antwortet nur, dass die Sitzung der Duma aufgehoben sei. Am nächsten Tag fährt er mit seinem Zug vom Hauptquartier in Richtung Petrograd. Doch der Herrscher erreicht die Hauptstadt nicht, weil revolutionäre Truppen bereits die Strecke unsicher machen. »Der Charakter Seiner Majestät war die Wurzel allen Unglücks«, hat sein zeitweiliger Premier Sergej Witte später geurteilt. »Sein Hauptfehler war sein bedauerlicher Mangel an Willenskraft. Er war für die bedeutende historische Rolle, die das Schicksal ihm auferlegt hatte, nicht geboren.« Ein anderes Verdikt über den Zaren fällt noch härter aus: »Er ist wie ein weicher Lappen«, urteilte General Pjotr Tscherewin.
Die Oberbefehlshaber der Armee drängen Nikolai am 15. März 1917 zum Verzicht auf den Thron: »Ich möchte meinen Sohn bei mir behalten«, sagt der Herrscher, »und danke in meinem und
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