Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
hatte. Der berühmte deutsche Soziologe Max Weber bezeichnete das System als »Scheinkonstitutionalismus« und schrieb vom »erbärmlichen Regiment des Zaren«.
Nikolai hatte noch einmal Zeit gewonnen. Für ein paar Jahre herrschte Ruhe im Land, Grabesruhe. Er regierte leidenschaftslos, wirklich wohl fühlte er sich mit seiner Frau, mit der er gern Englisch sprach. Alexandra blieb eine deutsche, in England aufgewachsene Prinzessin, die nur mit starkem Akzent Russisch sprach und sich in der Öffentlichkeit ungeschickt bewegte. Sie kannte und verstand Russland nicht, warf sich aber mit dem Eifer einer Konvertitin in den orthodoxen Glauben und erging sich in dunkler Mystik. Ihre vordringliche Aufgabe war es, einen Thronfolger zu gebären. Im August 1904 war es so weit, nachdem sie zuvor vier Töchter zur Welt gebracht hatte. Doch der Zarewitsch litt an einer schweren Erbkrankheit. Alexej war Bluter. Wenn der Zarewitsch sich nur stieß, bekam er äußerst schmerzhafte Hämatome. Sein kaiserliches Blut gerann sehr viel schlechter. Selbst kleine Wunden waren lebensgefährlich. Ein dubioser französischer Magier versuchte ihn zu heilen, vergebens.
Erfolge, so glaubte die Zarin, erzielte hingegen der Mann, der bald den Ruf ihrer Familie ruinieren sollte: Rasputin. Ein Bischof eröffnete diesem Grigorij Jefimowitsch Nowych Zugang zu den Spitzen der Gesellschaft, später lernte auch das Zarenpaar ihn kennen. Der Name des aus Westsibirien stammenden Wunderheilers klang fast wie Rasputnik, Wüstling. Dazu passte sein sinnenfrohes Rezept: Um die Sünde zu überwinden, müsse man durch sie hindurchgehen. Mit seinen stahlgrauen Augen hatte er auf Frauen eine geradezu hypnotische Wirkung, so auch auf die beste Freundin der Zarin und die Zarin selbst. Als der Zarewitsch nach einem Sturz im Sterben zu liegen schien und schon die letzten Sakramente erhielt, telegrafierte Rasputin: »Die Krankheit scheint nicht gefährlich. Die Ärzte sollen sich nicht bemühen.« Kurz darauf kam die Blutung zum Stillstand. Die Zarin hielt diese äußerst ungewöhnliche Spontanheilung für ein Wunder. Und verfiel dem bärtigen Scharlatan noch mehr.
Auf dem Weg in die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«, wie der amerikanische Diplomat George F. Kennan den Ersten Weltkrieg genannt hat, agiert Nikolai II. hilflos – ähnlich wie sein deutscher Cousin, Kaiser Wilhelm II. Die beiden korrespondieren regelmäßig auf Englisch, wobei der deutsche Kaiser gewöhnlich mit »Ever your devoted cousin and friend Willy« unterzeichnet. Doch die Vettern-Freundschaft kann den Frieden nicht sichern. Als am 28. Juni 1914 ein serbischer Nationalist den österreichischen Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo erschießt, glaubt Nikolai zunächst nicht an einen Krieg. Die Österreicher stellen allerdings ein Ultimatum mit harten Forderungen an die Regierung Serbiens und setzen damit eine Kettenreaktion in Gang. Das Zarenreich reagiert mit der Teilmobilmachung seiner Truppen.
Nikolai und Wilhelm erkennen nicht, dass ein längerer Krieg in Europa ihre Monarchien zerstören wird. Kurz nach der deutschen Kriegserklärung im August 1914 bekommt Nikolai noch ein Telegramm von Wilhelm, in dem dieser die Demobilisierung der russischen Truppen fordert. Doch der Zar wendet sich enttäuscht von seinem Cousin ab. »Er war nie ehrlich, nicht für einen Moment«, sagt er über Willy. »Am Schluss war er hoffnungslos im Netz seiner Perfidie und seiner Lügen gefangen.« Da auch Großbritannien dem Deutschen Reich den Krieg erklärt, ist Nikolai von einem schnellen Sieg überzeugt. Seine Hauptstadt St. Petersburg benennt er in Petrograd um, russisch statt deutsch.
Wilhelms Armee hat alle Kräfte im Westen konzentriert. Nach dem Schlieffen-Plan soll Frankreich rasch überwältigt werden. Als die deutschen Spitzen Brüssel erreicht haben, marschieren zwei russische Armeen nach Ostpreußen ein, eine geführt vom baltendeutschen General Paul von Rennenkampf. Die Russen zwingen die Oberste Heeresleitung, zwei Armeekorps vom Westen in den Osten zu verlegen. Dies hilft den Franzosen, den deutschen Angriff auf Paris an der Marne abzuwehren. Doch das russische Heer kann nicht dauerhaft siegen. Es ist zwar mit 1,3 Millionen Soldaten das größte der Welt, größer als die Armeen Deutschlands und Österreich-Ungarns in Friedenszeiten zusammen. Die Ausrüstung jedoch ist jämmerlich. Ende 1914 stehen offiziell 6,5 Millionen Russen unter Waffen, aber sie verfügen nur über 4,5 Millionen
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