Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
Außenminister der Sowjetunion aufsteigen. Zu bolschewistischen Führern avancieren auch verarmte Adelige wie der Kaukasier Grigorij Ordschonikidse und der Pole Felix Dserschinski, der spätere Begründer der Geheimpolizei Tscheka. Ein leitender Genosse aus bürgerlichem Milieu ist der Ingenieur Leonid Krassin. Der verschafft den orthodoxen Marxisten auf unorthodoxe Weise Bares. Krassin organisiert Banküberfälle, agiert als Sprengstoffexperte und macht nebenbei Karriere bei »Siemens – Schuckert«, deren Moskauer Filiale er ab 1912 leitet.
Lenin, der Listige mit den lebhaften Augen, vereint mit den Bolschewiki eine bunte Truppe aus Abenteurern, Fanatikern und politischen Romantikern, darunter der Schriftsteller Maxim Gorki. Das exzentrische Ensemble bändigt er mit hochgradiger »intellektueller Hartnäckigkeit«, die ihm später sein Mitstreiter Leo Trotzki bescheinigen wird. Lenins politischer Optimismus wirkt ansteckend, etwa wenn er in einem Flugblatt zum 1. Mai 1904 ein »freies Russland« ankündigt und verspricht: »Die dunklen Mächte, welche die zaristische Selbstherrschaft schützen, gehen unter.« Seinen Anhängern vermittelt Lenin stets das Gefühl, er führe sie auf »den richtigen historischen Weg«, so 1924 rückblickend sein Genosse Karl Radek.
Im Herbst 1905 beginnt für die Berufsrevolutionäre die Generalprobe. Nach dem verlorenen Krieg gegen Japan flammen im gesamten Land Aufstände auf, flankiert von Streiks. Vielerorts bilden sich Sowjets (Räte), Ansätze einer neuen Macht. Den Petersburger Sowjet führt im November Trotzki, in Moskau nehmen Bolschewisten im Dezember an Barrikadenkämpfen im Arbeiterviertel Krasnaja Presnja am Moskwa-Fluss teil. Während der Revolution kehrt Lenin heimlich nach St. Petersburg zurück. Seinen Genossen predigt er, sie sollten »die Kunst des Bürgerkrieges erlernen«. Der Theoretiker gibt praktische Ratschläge: Man könne »einen Spitzel töten oder ein Polizeirevier in die Luft sprengen« oder »eine Bank überfallen, um Geldmittel für den Aufstand zu konfiszieren«. Wenn die bewaffnete Staatsmacht anrücke, so Lenin, sollten die Kämpfer von Hausdächern aus »die Truppen mit Steinen bewerfen, mit kochendem Wasser begießen« oder »Säuren zum Begießen von Polizisten« einsetzen.
Zwar gelingt es der Zarenmacht, die Aufstände mit Militärgewalt und Standgerichten niederzuschlagen. Lenins Revolutionäre aber rücken als die radikalsten Gegner der Staatsmacht ins öffentliche Bewusstsein. Und die Revolution bewirkt Freiheiten, von denen auch die Bolschewisten profitieren. Die bisherige sozialdemokratische Strömung formiert sich 1912 als eigene Partei. In St. Petersburg gründen die Bolschewiki die Zeitung »Prawda« (Die Wahrheit). Im Herbst 1912 ziehen sie mit sechs Abgeordneten ins Parlament ein, die Reichsduma. Zwei Jahre später gelingt es Zar Nikolai II. nicht, Russland aus dem Ersten Weltkrieg herauszuhalten. Der 44-jährige Lenin, dem die Zeit davonläuft, erkennt seine Chance.
Im Gegensatz zu allen anderen Oppositionellen propagiert er seit Kriegsbeginn unbeirrbar die »Niederlage der zaristischen Monarchie«. Er verurteilt jene Sozialdemokraten, die zur Vaterlandsverteidigung aufrufen. Der Krieg, so Lenin, sei von allen Seiten ein »imperialistischer«. Anfangs sind die Bolschewiki damit politisch isoliert. Doch je länger das Völkergemetzel andauert und je kriegsmüder die Massen werden, desto mehr wächst Lenins Ansehen. Im Zürcher Exil überraschen ihn im März 1917 die Nachrichten vom Ausbruch der Revolution.
Zunächst wecken Pressemeldungen bei ihm Zweifel, ob Nikolai II. wirklich abgedankt hat. Lenin, dem Schachspieler, fallen sofort die Züge ein, mit denen der Zar die Revolutionäre noch matt setzen könnte: Wenn Nikolai sich entschlösse, »Widerstand zu leisten und eine Partei, vielleicht gar eine Armee für die Restauration zu organisieren« und einen Separatfrieden mit Deutschland auszuhandeln, könnte er sein Regime retten. Doch so klug und beweglich, wie Lenin fürchtet, ist der Monarch nicht. Er gerät nach dem Thronverzicht in Hausarrest und wird im Juli 1918 von den Bolschewisten ermordet, die im November 1917 mit einem Gewaltstreich die Macht übernommen haben. Den Separatfrieden mit Deutschland lässt Lenin selbst abschließen, im März 1918, als Regierungschef.
Gott und Lamm
Er galt als Sexguru, Wunderheiler und Spion. 1916 wurde der Zarenfreund Rasputin ermordet.
Von Nils Klawitter
Am Morgen des 19. Dezember 1916
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