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Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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zerrissenes Kleid um mich raffend, fand ich wenig Trost bei den Römern.

    »Aufstehen.« Ich öffnete im kalten grauen Licht eines anbrechenden Wintermorgens die Augen und sah Mutter in der geöffneten Türe stehen. Leichter Schnee war auf die hohen Spitzdächer der Rue des Marmousets gerieselt, so daß sie durch die Turmfenster wie spitze, mit Staubzucker bedeckte Kuchen aussahen. Die Straße unten lag still und weiß unter dem grauen Himmel; die ersten Spuren des Morgens durchschnitten das Weiß bis auf den schwarzen, gefrorenen Schlamm darunter. »Ich wünsche, daß du hier verschwindest. Sofort.« Sie blickte seltsam drein. Sie hielt mir meinen Umhang hin. »Anziehen. Hinaus«, sagte sie. Sie wandte sich ab und starrte in die Luft auf etwas Unsichtbares. Ihre Augen rollten unheimlich zuckend seitwärts. Ich zog meinen Umhang an, holte meine Notizbüchlein aus ihrem Versteck und stopfte sie in die Fetzen meines Kleides. Sie schien es nicht wahrzunehmen. Ihr Gesicht war mir zugewandt, aber ihre Augen bewegten sich immer noch in seltsamen Zuckungen und sahen etwas, das nicht da war. Meine Büchlein, was nutzten sie mir jetzt? Nur als Andenken an Vater. Ich hatte die Vorstellung von einem geordneten Geist aufgegeben. Mein Gesicht war geschwollen, mein Haar wirr wie bei einer Irren. Ich wollte sterben.
    »Wohin soll ich gehen?« fragte ich. Meine Zunge war so dick, daß die Worte sich auf ihr verhaspelten.
    »Das schert mich nicht, nur fort mit dir, du häßliches, undankbares, hinterhältiges Ungeheuer.« Das Weiße ihrer zuckenden Augen schien gelb, von der Farbe alten Elfenbeins. Ihre Zunge schnellte aus einem Mundwinkel wie bei einer Schlange. »In die Salpêtrière – dort gehören solche wie du hin, Häßliche, Arme – niemand will eine häßliche Frau, nicht einmal die –« Ihre Stimme verlor sich. »Der Fluß –« setzte sie kräftiger wieder an. »Für dich ist der Fluß das beste.« Sie reckte das Kinn, eine Karikatur ihrer alten hochfahrenden Geste. Wer schaut ihr zu, dachte ich. Sie führt sich auf, als trete sie in einem Stück auf – aber sie hat ihren Text vergessen. Sie ist nervös. Auf der engen Wendeltreppe hinter ihr war aber niemand, der ihr zuschaute.
    »Nun fort mit dir, du schmutziges, faules, unnützes Ding, sonst ist es aus mit dir.« Auf dem Weg zur Türe starrte ich Mutter über die Schulter an. Aber Mutter sah mich nicht. Ihre Augen zuckten noch immer durchs Zimmer, als suchten sie etwas im Schatten.
    Ich humpelte die Stiege hinunter, fühllos, das irre Wesen, das ich geworden war. Durch Marie-Angéliques kleine Kammer, in der sie, unter dem Durcheinander ihrer Laken, in tiefem Schlafe lag, um die Ecke und hinab, durch Großmutters hohes rotes Gemach, wo der Papagei im zugedeckten Käfig Trübsal blies. Wieder um eine Ecke, durch eine Gesindekammer, dann durch eine Türe, an Vaters leerem Bett vorbei. Durch Onkels Zimmer und durch Mutters, treppab, und durch das Speisezimmer und den hohen Empfangssalon, der jetzt kalt war und still. Adieu, adieu. Unterhalb der Stiege hörte man Lärm aus der Küche, das Klappern von Tiegeln. Mutter wies stumm auf die Türe zur Straße. Ich hinkte, ganz vornübergekrümmt, zur Eingangstüre. Den Riegel angehoben, hinaus auf die eisige Straße. Adieu. Adieu, Haus, adieu, Gespenster, adieu, Monsieur Beluts achtbares Haus. Die Leute haben sich geirrt, wißt ihr. Die Menschenfresser müssen in der Maison des Marmousets gelebt haben. Sie haben es des Geldes wegen getan. Schließlich, welcher Pariser Schankwirt möchte nicht gerne einen kleinen Extraverdienst aus Fremden herausholen? Schickt sie in das Haus an der Ecke, wo sie die berühmten, oh, die so überaus delikaten pâtés zubereiten.
    Bei der Rue de la Lanterne um die Ecke. Ah, da ist er. Der alte Freund. Der Pont-Neuf, über den kalter Wind pfiff, während darunter Eisschollen im kalten Wasser trieben. Die Possenspieler waren fort, der Scharlatan mit dem Affen, die tragbaren Buden mit den hübschen Sächelchen, die Quacksalber, die Pamphletverkäufer. Die ersten Bettler waren schon da. Fehlende Beine. Fehlende Arme. Eine Frau mit einem verkrüppelten Kind. Veteranen. Eine alte Frau humpelte über die matschigen Spuren der ersten Kutschen. Schreie. Mit Feuerholz beladene Fuhrwerke überquerten die Brücke. Platz da, Alte!
    Ich stand lange Zeit am Brückengeländer. Die Sonne stieg höher, eine blasse weiße Scheibe am schiefergrauen Himmel. Dunkel und kalt sah er aus, der Fluß. Die Römer verstanden

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