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Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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bevor wir sterben, müssen wir beichten und Abbitte tun. Ich habe dir einen schlechten Dienst erwiesen.«
    »Niemals, Vater, ich wüßte nicht, inwiefern.«
    »Ich habe dich in meinem Sinne erzogen, Geneviève, und nicht, wie es sich für die Welt geziemt. Es war selbstsüchtig von mir, das erkenne ich jetzt.«
    »Aber nein, Vater. Ihr seid der beste, gütigste Vater auf der Welt.«
    »Aber ein törichter. Verstehst du, Geneviève? Ich habe nie ans Sterben gedacht. Ich dachte, ich könnte mich deiner Gesellschaft und Unterhaltung noch viel länger erfreuen. Was war ich nur für ein selbstsüchtiger Mensch! Aber jetzt – jetzt erkenne ich alles. Ich habe dich nicht auf das Kloster vorbereitet, meine Tochter. Ich habe dich die Wahrheit gelehrt statt Aberglauben. Naturwissenschaft, Geometrie, das neue Denken. Was wird nun aus dir werden? Ich bitte dich um Vergebung, meine Tochter.«
    »Vater«, entgegnete ich, bemüht, das Brennen in meinen Augen zu ignorieren, »es gibt nichts zu vergeben. Ihr gabt mir ein Heim, Eure Zuwendung, und ich verdanke Euch meinen Verstand, meinen allergrößten Schatz.«
    »Ja, der allergrößte Schatz. Wenngleich vollkommen ungeeignet, um sich zu ernähren oder zu kleiden oder um den Regen abzuhalten, meine Tochter.« Sein altes listiges Lächeln flackerte auf und verging. »Ja, der allergrößte Schatz, und seltener, als du ahnst.«
    »Ich muß unterbrechen.« Mutter war lautlos durch die offene Türe eingetreten, ein frisches Nachthemd und Verbandszeug auf dem Arm, und stand, unsichtbar im trüben Licht, in der Ecke. Vater stöhnte, und sie verrichtete ihre Pflichten. Dann fiel er, vom Wechseln der Wäsche erschöpft, in einen unruhigen Schlaf. Nachdem sie ihm aufgewartet hatte, wusch sie sich in der großen Porzellanschüssel auf der Nachtkonsole die Hände und übergoß sie mit frischem Wasser aus dem Krug, um die Seife zu entfernen.
    Sie wandte sich gleichmütig an mich: »Geneviève, es ist Zeit, den Priester zu holen. Er wird die Nacht nicht überstehen.«
    Während der nächsten Stunden verfiel Vater zusehends. Ich führte den Priester herein, der den ersten Schnee des Winters von seinem Barett klopfte. Mutter, Onkel und mein Bruder standen am Kopfende des Totenbettes, die Dienstboten weinend zu Füßen, indes ich Marie-Angélique beistand, die vor Gram in einem hysterischen Krampf zusammengebrochen war. Mir selbst wollte nicht eine Träne kommen. Wie Vaters Römer konnte ich den Tod ohne Gemütsbewegungen sehen, aber mein Körper fühlte sich an wie Eis. Ich suchte Trost bei Descartes, aber es war schwierig, Vater als eine Maschine zu betrachten, deren Räderwerk und Getriebe stillstanden und aus der allein die Seele entflohen war. Mich dünkte, daß Vaters Seele weitgehend ein Teil seines Leibes war; wie konnte die Seele dieselbe bleiben, ohne den listigen Blick seiner jetzt geschlossenen Augen, ohne das schiefe Lächeln auf den nun grausig geschwärzten Lippen? War der Leib nur ein Kostüm, das er im Tode abgelegt hatte, oder war er seine Ganzheit, die nur einen trostlosen, wesenlosen Wisch emporfliegen ließ? Beraubt, kalt, verlassen. Vater war nicht mehr. Draußen fielen die weißen Flocken leise vom grauen Himmel; drinnen wurden Gebete gemurmelt. Ich konnte Vaters spöttisches Gelächter hören, das Lachen eines Freidenkers, der das Universum jenseits des Leibes entdeckte. Hörte Mutter es auch? Sie verdrehte plötzlich die Augen zur Decke, wurde bleich und verkrampfte die Hände, bis sie ihre Fassung wiedererlangte. Oh, Descartes, Ihr habt nicht auf alles eine Antwort.
    »Ein geordneter Geist vermag alle Probleme zu lösen«, hörte ich in meinem Kopf Vaters Stimme geduldig wiederholen. Mein Büchlein, du hast ein neues Problem. Als der Priester sich entfernt hatte, schrieb ich unter Monsieur de la Reynie:

    Der Leib, der Geist, die Seele – wie verbunden? Methode zur Erprobung; ist zu entdecken.

    »Und nun, Mademoiselle, wirst du uns sagen, wo es ist.« Es war Mitternacht. Vaters Leichnam war noch im Nebenzimmer auf dem Bett aufgebahrt, Kerzen brannten am Kopf- und Fußende, wie um die ewige Finsternis zu verscheuchen. Man hatte mich aus dem Bett geholt und im Nachthemd in den fensterlosen inneren Winkel von meines Vaters Studierstube gestoßen. Alle Schubladen seines Pultes standen offen, die Bücher lagen zuhauf auf der Erde, nachdem man sie gründlich nach Papierschnipseln zwischen den Seiten durchsucht hatte. Ein Kistchen lag umgekippt und leer auf einem Bücherbord.

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