Die Hexe von Paris
Kletterpflanzen geben, die einen Menschen erwürgen können und mit ihren langen, hohlen Ranken sein Blut trinken.« Die Anwesenden schauderten.
»Uuh!« rief Brigitte. »Haben sie so eine auch ausgestellt? Es müßte aufregend sein, sie zur Fütterungszeit zu sehen!«
Und so ruhten wir nicht eher, als bis wir eine Gruppe zusammen hatten, die noch am selben Abend sowohl den Waschbären als auch die feinen Leute besichtigen wollte. Und zwar in einer Mietdroschke, spendiert von der großzügigen Marquise de Morville, deren wohltätige Werke ihr einen stetig wachsenden Erfolg bescherten.
»Oh, ich liebe es, in einer richtigen Kutsche zu fahren!« schwärme Amélie, als wir in der Abenddämmerung zu dem Gelände der weitläufigen Abtei St. Germain am linken Ufer der Seine aufbrachen. Brigitte warf ihr einen vernichtenden Blick zu.
Der Tuchhändler, ein gewichtiges Mannsbild mittleren Alters, eingezwängt zwischen seiner Verlobten und ihrer Schwester, verkündete: »Wenn wir vermählt sind, soll Euch stets eine Kutsche zur Verfügung stehen, Mademoiselle Bailly. Eure zierlichen Füße sollen die Erde nicht berühren.«
Ihre Mutter seufzte. »Welch rührende, fürnehme Ergebenheit! O Monsieur Leroux, Ihr seid so galant!«
»Wie könnte es anders sein, bei einer so reizenden jungen Dame?« sagte der Abbé, der, zwischen die Witwe Bailly und mich gequetscht, sich noch nicht entschieden hatte, hinter wessen Taille seine Hand gleiten sollte. Auf meiner Seite begegnete er Eiseskälte und hartem Stahl, auf ihrer Quietschen und Gekicher. Er rutschte auf die gewogenere Seite.
»Oh, seht, sie zünden die Straßenlaternen an!« Amélie wies auf einen Mann auf einer Leiter an der Ecke neben der polizeilichen Absperrung.
»Monsieur de la Reynies beste Erfindung«, ließ sich der Tuchhändler vernehmen. »Bald wird ganz Paris bei Nacht so sicher sein wie Ihr Schlafgemach, Mesdames. Er hat die Wachen vermehrt und wird bald den allerletzten Bettler und Dieb hinweggefegt haben, die unserer herrlichen Stadt Schande machen. Wir leben in einem Zeitalter der Wunder –«
Unsere Kutsche hatte angehalten, um an der Wegkreuzung eine elegante Equipage passieren zu lassen. Ihr Wappenschild war übermalt, und sie war mit maskierten Damen und Herren auf dem Weg zum Jahrmarkt beladen. Die Oper war zu Ende. Unter der eben angezündeten Laterne sah ich eine öffentliche Bekanntmachung, frisch über mehrere alte angeschlagen. Die neuesten polizeilich verbotenen Bücher. Es war verboten, sie zu besitzen oder zu drucken, zu kaufen oder zu verkaufen, bei strengster Bestrafung etc. Mein skandalsüchtiges Auge suchte nach etwas Interessantem: »La Défense de la Réformation« – fader Protestantismus. »Philosophische Betrachtungen über die Gnade« – noch faderer Jansenismus. »Betrachtungen über die Gesundheit des Staatskörpers«, Verfasser unbekannt, Pseudonym »Cato«. Sogleich wurde die Erinnerung an einen hitzigen jungen Mann wach, in fadenscheinigem Schwarz wie ein notleidender Geistlicher. Ein dunkelhäutiger junger Mann mit entschlossenem Kinn und ehrgeizigem Blick, bereit, Paris im Sturm zu erobern. So, Monsieur Cato, Eure Laufbahn wird nicht in den Salons enden, sondern in der Bastille. Und Griffon. Hatte die Polizei das Tor aufgebrochen und die Presse zertrümmert? Hatten Brechstangen die Druckvorlagen zerschlagen? Wie lange standet ihr wegen Druckens des bösen Wortes am Pranger? Und Lamotte. Ach, Lamotte. Er würde entkommen, der Poet, der Stückeschreiber. Weil ich es wollte. Alles andere wäre zu schrecklich.
»Verbotene Bücher sind die begehrtesten Sammlerexemplare, Madame la Marquise«, bemerkte der Abbé beiläufig und betrachtete die Stelle, auf die mein Blick gefallen war.
»Wer derartige Dinge besitzt, ist nicht besser als ein Verräter, der die Sicherheit des Staates untergräbt«, erklärte Monsieur Leroux, der Tuchhändler.
»Vorige Woche haben sie einen Verräter auf der Place de Grève bei Fackelschein aufs Rad gebunden«, warf Brigitte ein. »Alle sagen, es war himmlisch, aber Mutter wollte mich nicht hingehen lassen.«
»Es schickt sich nicht für ein Mädchen, unbegleitet zu nächtlichen Exekutionen zu gehen«, erklärte ihre Mutter.
»Eine Frau von Stand sollte stets in Begleitung zu Exekutionen gehen. Ich würde meine Gemahlin selbstverständlich stets persönlich zu solchen löblichen Zurschaustellungen der Moral begleiten«, sagte Monsieur Leroux und umfaßte Amélies Hand.
»Freilich, mit verbotenen
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