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Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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nicht diese Klarheit verleihen. Und dann, während meine Gedanken davonpreschten wie Pferde in vollem Galopp, wurde mir bewußt, was ich mir zuvor nicht zu denken gestattet hatte. Ich begehrte André Lamotte.

KAPITEL 10
    I n der folgenden Woche hatte ich großes Glück. Monsieur Rabel, der Heilkundige, kam heimlich zu einer Lesung in das kleine Haus in der Rue du Pont-aux-Choux. Das erste Bild, das ich im Glas emporsteigen lassen konnte, zeigte ihn, wie er einen Patienten mit einer undefinierbaren Arznei tötete. Das nächste war schlimmer: Es zeigte ihn in einem Verlies, wo er von einem Mann mit brauner Vollperücke verhört wurde, während Schreiber die Aussage protokollierten. Rabel wurde bleich, als ich es ihm sagte; mir dagegen erschien das alles ziemlich übertrieben für etwas, das Heilkundige jeden Tag tun. »Ich kann das nur so deuten, Monsieur Rabel, daß die Obrigkeit glaubt, es habe sich bei dieser Arznei um Gift gehandelt.«
    »Was – was seht Ihr sonst noch? Sagt es mir.« Er beugte sich vor, so daß sein Atem die Kugelvase trübte.
    »Ihr liegt ausgestreckt auf einer Matratze, und der Schreiber beugt sich zu Eurem Mund, um Euch zu verstehen.«
    »Mein Gott. Ist es die Folter?« flüsterte er. Ich hatte in den letzten Monaten eine Menge über moderne Polizeimethoden erfahren. In Paris wurden Folterungen jetzt unter wissenschaftlicher Leitung durchgeführt, und sie waren auf drei zugelassene Formen beschränkt: die Streckbank, die Wasserfolter und den spanischen Stiefel. Es war mir gelungen, alle drei Arten im Glas zu sehen, und ich machte mir keine Illusionen über die Ausführung. Stets war ein Wundarzt zugegen, um zu verhindern, daß der Tod dem Folterknecht ein Schnippchen schlug, der Gefangene wurde zwischen den »Sitzungen« auf eine Matratze gelegt, um den Tod aufzuhalten. Es war ein System bewundernswerter Regelmäßigkeit und Ordnung, und La Reynie, der tüchtige Administrator, kümmerte sich persönlich um die Vollstreckung.
    »Ihr seid nicht unbekleidet«, bemerkte ich mit einem Blick auf die Gestalt im Glas.
    »Dann kann es nicht die Wasserfolter sein. Wie sehen meine Beine aus?«
    »Sie sind heil. Kein Blut, keine Knochen, nichts an ihnen als Strümpfe mit Löchern – keine Schuhe –«
    »Dann kann es auch nicht der spanische Stiefel sein. Könnt Ihr weiter in den Raum sehen?«
    »Nicht ganz. Ich sehe einen Wundarzt, aber nicht den Gehilfen des Folterknechts. Ich denke, Ihr seid vielleicht nur krank, und es ist nicht die Folterpause.«
    »Noch ein Bild. Ich muß es wissen.«
    »Ich bin ermattet, Monsieur. Fieber beschleicht mich. Ich werde zu schwach.«
    »Koste es, was es wolle, ich muß es wissen.«
    »Noch einmal zehn Écus.«
    »Um jeden Preis.«
    »Marie«, rief ich und klingelte mit meinem silbernen Glöckchen, das neben mir auf dem Schreibpult stand. »Bereite mir frisches Wasser, ich muß noch eine Lesung machen.« Und als sie von dannen eilte, bot ich dem Heilkundigen ein Glas Likör an, damit er die Erschütterung und ich die unheimliche Erschöpfung verkraftete, die mich nach anstrengenden wiederholten Lesungen jedesmal befiel.
    »Müssen die Bilder Wahrheit werden, oder kann man es verhüten?« fragte Rabel und fächelte sich kraftlos mit einer Hand.
    »Das würde ich selber gerne ergründen. Bislang sind sie wahr geworden, aber es hat ja auch noch niemand ernsthafte Anstrengungen unternommen, die Ereignisse, die das Wasser zeigt, zu verhindern. Wenn aber das Schicksal unabwendbar ist, dann würde Gott nicht von uns verlangen, die Wahl zwischen Gut und Böse zu treffen, da Er doch ohnehin weiß, wie es ausgeht.«
    »Ihr seid eine weise Frau, Marquise. Ich würde Euch nicht für jünger als eineinhalb Jahrhunderte halten. Dennoch, Ihr habt den Verstand eines Mannes. Das ist ein großer Widerspruch: Wenn wir uns den Bildern anheimgeben, können wir alles tun, was uns beliebt, denn uns trifft keine Verantwortung. Suchen wir sie aber zu verändern, so kann uns dies nur gelingen, wenn wir tatsächlich die freie Wahl haben. In diesem Falle hat Gott uns gestattet, zwischen Gut und Böse zu wählen.« Er seufzte. »Wenn es so ist, müssen wir das Gute wählen, oder wir sind des Teufels.«
    »Nur, wenn es Gott gibt, Monsieur Rabel.«
    »Aber wenn es Ihn nicht gibt, dann sind wir in ein verfallendes Universum gestürzt, in ein unaussprechliches Chaos, denn weder Gut noch Böse würden vergolten. Wo ist dann die Ordnung? Wozu sind wir hier? Habe ich umsonst gelitten, nicht für den

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