Die Hexe
Kürze«, sagte Kara mit Santiagos Stimme. »Halten Sie sich bereit!«
Villa Karavella
Moskau, Silberhain
Samstag, 30. September, 16:18 Uhr
Larissa wusste, dass ihr Vorhaben eine schwerwiegende Indiskretion bedeutete, doch sie konnte nicht anders. Die Fragen, die ihre Entdeckung in der Bibliothek aufgeworfen hatte, brannten ihr unter den Nägeln. Und eine Antwort darauf konnte sie nur in Karas Arbeitszimmer finden. Aus welchem Grund beschäftigte sich die Zauberin so intensiv mit der Herkunft der Wandelwesen? Hatte sie etwa vor, die Verborgene Stadt mit einer ganzen Armee dieser Monster auszulöschen? Hirngespinste! Völliger Unsinn! So hätte Larissa noch vor einem Monat gedacht. Mittlerweile war sie da nicht mehr so sicher.
Selbstverständlich hielt Kara ihre Schülerin über ihren jeweiligen Aufenthaltsort nicht auf dem Laufenden, doch das war auch gar nicht erforderlich. Larissa hatte inzwischen so große Fortschritte gemacht, dass es sie keine Mühe kostete, die Villa unbemerkt zu scannen, um festzustellen, ob die Zauberin anwesend war.
Kurz nachdem Kara sich via Portal in die Kastanajewskaja-Straße aufgemacht hatte, schlich Larissa auf leisen Sohlen zum Arbeitszimmer ihrer Lehrmeisterin. Während das Anwesen selbst nur durch gewöhnliche Überwachungseinrichtungen gesichert war, hatte Kara diesen privaten Raum mit Schutzzaubern buchstäblich verbarrikadiert.
Als Larissa sich der Tür näherte, registrierte sie die magischen Sperren sofort: Ein Silberglöckchen warnte die Zauberin, sobald ein Unbefugter sich erfrechte, ihr Allerheiligstes zu betreten. Zur Vernichtung ungebetener Gäste hatte sich Kara für einen Salamanderring der vierten Kategorie entschieden. Dieser mächtige Schutzzauber verbrannte jeden Eindringling kurzerhand zu einem Häufchen Asche. Zur Abrundung diente ein Zelt der Stille . Dieses raffinierte Arkan machte den Raum völlig abhörsicher. So blockierte es zum Beispiel die Funktion von Richtmikrofonen und Wanzen und verzerrte zudem die nach außen dringenden Stimmen der Anwesenden. Wenn im Raum jemand sprach, hörte man das vor der Tür nur als unverständliches Gemurmel.
Kara schützte ihre Geheimnisse mit den wirksamsten und zuverlässigsten Zaubern, die in der Verborgenen Stadt je ersonnen wurden. Es war völlig ausgeschlossen, dass jemand gegen ihren Willen ihr Arbeitszimmer betrat. Doch dies hatte Larissa auch gar nicht vor.
Sie interessierte sich ausschließlich für das, was auf Karas persönlichem Computer abgespeichert war. Über ein Netzwerk konnte sie diese Informationen nicht abgreifen, das verhinderten entsprechende Sicherheitsvorkehrungen. Doch es gab einen anderen Weg.
Larissa stellte ihr Notebook auf den Boden, öffnete die Tür einen Spaltbreit und schob vorsichtig ein Kabel in den Raum.
Keinerlei magische Impulse! Die Zauberin atmete auf. Die Schutzzauber sprachen nicht darauf an. Wie sie vermutet hatte, waren die Arkane nur auf lebende Objekte programmiert. Kara war gar nicht auf die Idee gekommen, dass jemand an ihre Geheimnisse gelangen könnte, ohne den Raum zu betreten.
Der Rest war ein Kinderspiel – vorausgesetzt man beherrschte ein bisschen Telekinese. Das von Larissa gesteuerte Kabel kroch bis zum Schreibtisch, auf dem der Computer stand, schraubte sich wie eine dressierte Schlange auf die nötige Höhe empor und dockte zielsicher an der richtigen Buchse des Rechners an.
Larissa startete Karas Computer von ihrem Notebook aus und auf dem Bildschirm erschienen die geheimsten Geheimnisse der Magierin.
Zentrale des Konzerns T-Grad-Com
Moskau, 1. Brestskaja-Straße
Samstag, 30. September, 16:21 Uhr
Schon seit vielen Tausend Jahren existierte die Verborgene Stadt an den Ufern der Moskwa. Sie hatte vieles gesehen und vieles erlebt. Mal waren ihre Gebäude aus Holz, mal aus Stein, mal wirkte sie verwahrlost, mal blühend, immer so, wie das Moskau der Humos, in das sie diskret eingebettet war. Sie durfte nicht auffallen und war deshalb immer auf der Höhe der Zeit.
Trotz ihrer Vorliebe für altehrwürdige Gebäude und trotz der Allgegenwart der Magie im täglichen Leben nutzten die Bewohner der Verborgenen Stadt bereitwillig die Errungenschaften der menschlichen Zivilisation. Sie fuhren Auto und U-Bahn, unterhielten sich am Telefon und begrüßten die Einführung asphaltierter Straßen. Lediglich für die Raumfahrt zeigten sie wenig Interesse und das auch nur deshalb, weil die Erschließung der Außerirdischen Welten nach dem aktuellen
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