Die Hexe
tun?«
»Zunächst einmal muss ich den Vorwurf entkräften, ich hätte einen verbotenen Zauber zugänglich gemacht«, antwortete Santiago. »Dadurch würde ich Handlungsfreiheit gewinnen und könnte, falls erforderlich, die Herrscherhäuser gegen unseren unbekannten Feind verbünden. «
»Zu diesem Zweck musst du herausfinden, wie dein Manuskript in die Wohnung von Bogdan le Sta geraten ist.«
Santiago nickte: »Ich habe auch schon eine Idee, wie es mir gestohlen worden sein könnte. Doch um diese Theorie zu überprüfen, muss ich die Verborgene Stadt für einige Tage verlassen. Sie müssen solange die Stellung halten und darauf achten, dass wir nicht in Unannehmlichkeiten geraten.«
»Wieso sollten wir in Unannehmlichkeiten geraten?«, entrüstete sich der Fürst. »Bildest du dir etwa ein, dass der Dunkle Hof ohne dich nicht in der Lage ist, vernünftige Entscheidungen zu treffen?«
»Das habe ich nicht gesagt«, beschwichtigte der Kommissar. »Ich würde es nur gern vermeiden, mich nach meiner Rückkehr im Epizentrum von Kriegshandlungen wiederzufinden. Unser Feind schläft nicht und wird sicher alles daransetzen, dass meine Rechtfertigungen zu spät kommen.« Der Kommissar erhob sich. »Ich breche unverzüglich auf. Mit Ihrem Einverständnis wird Ortega bis zu meiner Rückkehr den Posten des Kommissars bekleiden.«
»Keine Einwände«, pflichtete der Fürst bei. »Und noch etwas, Santiago.«
»Ja?« Der Kommissar wandte sich noch einmal um.
»Ich finde es nach wie vor eine Zumutung, dass du in weißen Anzügen bei mir aufkreuzt.«
»Er ist doch grau, nicht weiß.«
»Er blendet mich aber.«
»Kein Problem.« Santiago zog eine Sonnenbrille aus seiner Sakkotasche und legte sie auf den Tisch. »Die können Sie behalten.«
Bar Rennsemmel
Moskau, Bolschaja-Dmitrowka-Straße
Mittwoch, 27. September, 15:19 Uhr
Das Verdienst, die Rennsemmel zu einem der beliebtesten Lokale der Verborgenen Stadt gemacht zu haben, gebührte Murzo Chase, dem Geschäftsführer der Bar. Wie alle Lokalbesitzer in der Verborgenen Stadt entstammte Murzo dem Volk der Eulins, die für ihre unbeschwerte Lebenseinstellung, ihr humorvolles Naturell und einen sagenhaften Hang zu Frauengeschichten bekannt waren. Schon von alters her lebten die Eulins vom Arrangement lustbringenden Zeitvertreibs und die Fähigkeit, Gäste am Tresen oder auf einer Bühne zu unterhalten, sogen sie bereits mit der Muttermilch auf.
Murzo, der selbst ein glühender Formel-1-Fan war, hatte sich ein besonders geniales Geschäftsmodell ausgedacht: Er verwandelte die Rennsemmel in eine Fernsehbar, in der beinahe jedes Rennen, das irgendwo auf dem Erdball stattfand, live verfolgt werden konnte. Auf ganzen Batterien von Bildschirmen wurde ununterbrochen alles gezeigt, was um die Wette fuhr, rannte, skatete, galoppierte, flog, schwamm oder kroch. Auto- und Motorradrennen, Pferde- und Hunderennen, darüber hinaus exotische Veranstaltungen wie Ballonrennen lockten Massen von Besuchern in die Bar, die ihr Geld mit Wetten verprassten und sich nebenher Bier, Wein und Spirituosen einverleibten.
Auch an diesem Nachmittag ging es in der Rennsemmel hoch her, wenn auch weniger Gedränge herrschte als während eines Grand Prix der Formel-1. Auf dem Programm stand die Liveübertragung eines Wasserbüffelrennens aus der thailändischen Provinz Chonburi und das bunt gemischte Publikum unterstützte lauthals seine Favoriten.
» Buddhas Schmetterling! Buddhas Schmetterling! «, rief Murzo unermüdlich. »Lauf gefälligst, du Büffel, lass mich nicht im Stich!«
» Schwarzer Wind! Schwarzer Wind! «, skandierte ein Grüppchen Rothauben.
In der Hoffnung auf einen fetten Gewinn hatten die kleinwüchsigen Krawallbrüder mit den roten Kopftüchern die Ratschläge der Buchmacher ignoriert und auf einen totalen Außenseiter gesetzt. Nun trommelten sie mit den Fäusten auf den Tisch, um den lahmen Büffel nach vorn zu treiben.
» Silber des Ostens! Silber des Ostens! «, kreischte eine Schar hysterischer Feen.
Die Ziellinie rückte näher, die Spannung erreichte den Siedepunkt und die Gäste der Bar gerieten völlig aus dem Häuschen: die von Kopf bis Fuß tätowierten Rothauben in ihren Hosen und Westen aus schwarzem Leder, die seriösen Schatyren in ihren teuren Anzügen, die rothaarigen Tschuden mit den unvermeidlichen Schnallen an den Schuhen und die grünäugigen Luden, deren Kleidung ausschließlich aus Naturstoffen bestand. Sie alle vergaßen in jenen Augenblicken
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