Die Hexen - Roman
Boden und beleuchteten eine kniende Gestalt.
Lucian! Er lebt!, jubelte Ravenna innerlich, doch schon im nächsten Augenblick wurde ihr klar, wie verzweifelt ihre Lage war. Lucians Hände waren noch immer gefesselt. Mit den Blicken folgte er seinem Vater, der die Wege rings um das Pentagramm abschritt. Offenbar entgingen auch ihm die Dämonenkrieger nicht, die den Burggarten abriegelten. Falls er aufsprang und zu fliehen versuchte, hatte er vermutlich zwei Dutzend Armbrustbolzen im Leib, ehe er über die erste Zacke des Sterns hinauskam. Dasselbe galt für alle anderen Anwesenden.
Beliars Mittsommerfest war eine Falle.
Wenn ich Lucian doch nur ein Zeichen geben könnte, damit er weiß, dass es mir gutgeht, dachte Ravenna. Auf Händen und Knien kroch sie zu einem Mauerrest, der halb unter Efeu verborgen lag. Als Velasco einen Befehl rief, setzten sich einige der Krieger in Bewegung. Bei jedem Windstoß zuckten die Flammen und ein rotgoldener Schauer funkelte über Kette und Stahl.
Lucian hatte sich aufgerichtet und rutschte dichter an ihre Schwester heran. Durch das Laub hörte Ravenna seine Stimme. »Yvonne … bitte, Yvonne. Tut es nicht. Die Wirkung dieses Tranks ist unumkehrbar.«
Yvonne musterte den jungen Ritter. Ein ironisches Lächeln spielte um ihre Lippen. »Ich bin nicht so wie du«, entgegnete sie kühl . »Mir machen Veränderungen keine Angst.«
Lucian brachte ein kurzes Auflachen zustande, doch Ravenna merkte, dass er Angst hatte. Ihre Hand krampfte sich um den Schwertgriff. Sie schmiegte sich eng an das Mauerstück, denn auf dem Weg neben der Hecke klirrte plötzlich Metall auf Metall. Stiefelsohlen knirschten auf dem Kies und sie hörte, wie Velasco den Wächtern halblaut Befehle erteilte, in denen Worte wie tot oder lebendig vorkamen. Wenn sie den Arm ausgestreckt hätte, hätte sie den Hexer am Unterschenkel berühren können. Doch sie verhielt sich vollkommen still, obwohl jede Faser ihres Körper s zitterte.
»Seht mich an, seht das Beinkleid, das ich trage«, stieß Lucian soeben hervor. »Wenn ich kein Muster an Veränderung bin, dann weiß ich auch nicht. Das habe ich Eurer Schwester zu verdanken – sie hat mir die Zukunft gezeigt und nun sehe ich meine Welt mit anderen Augen. Es mag sein, dass Euch all dies gleichgültig ist, doch ich bitte Euch: Denkt wenigstens an Ravenna. Ich weiß, wie sehr Euch Eure Schwester liebt.«
Yvonne atmete tief ein und schien einen Moment lang aus der Fassung gebracht. »Ich liebe sie auch«, stieß sie hervor. »Aber es ist deine Schuld, dass sie jetzt nicht hier ist. Du, Norani und deine Freunde, ihr habt meine Schwester gegen Beliar und seinen Zirkel aufgehetzt und zum Schluss sogar gegen mich. Das war nicht nett, Lucian, das musst du zugeben.«
Der junge Ritter leckte sich über die Lippen und schien nach Worten zu ringen. Da trat Lynette zu ihnen, knickste und bot Yvonne ein Tablett, auf dem sich drei Dinge befanden: ein Stückchen Holzkohle, ein schmuckloser Kelch und der Stab aus Elfenbein. Das Szepter der Feuerkönigin.
Behutsam lockerte Ravenna das Schwert in der Scheide und legte die Finger fest um den Griff. Elinors Päckchen nahm sie in die andere Hand und zog den Lederriemen, mit dem es verschnürt war, mit den Zähnen auf. Der Geruch von Schwefel, Stinkwanze und Faulbaum quoll aus dem Beutel und brachte sie fast zum Würgen. Das Säckchen enthielt ein graues Pulver.
Währenddessen nahm Yvonne das Stück Kohle, beugte sich über Lucian und streifte ihm die Stirnfransen zur Seite. Es war eine zärtliche, eine intime Geste, wie sie nur zwischen Liebenden vorkam. Sie benetzte die Kohle mit der Zunge und malte dem Ritter ein Zeichen auf die Stirn. Es sah aus wie eine umgedrehte Vier.
»Es tut mir leid. Aber es muss sein«, flüsterte sie. Lucian schloss die Augen. »Ein uraltes Geheimnis wird uns heute Nacht enthüllt und ich will unbedingt dabei sein. Sei unbesorgt! Du weißt, was dir dein Vater versprochen hat. Du wirst dabei nicht zu Schaden kommen.«
Lucian schlug die Augen wieder auf und sah sie eindringlich an. »Ihr habt keine Ahnung, was mein Vater vorhat. Ich flehe Euch an, Yvonne …«
Er wurde unterbrochen, als Beliar neben sie trat. »Seid Ihr bereit?«, fragte der Marquis.
Yvonne nickte und warf das Stück Kohle achtlos fort. Beliar verzog die Lippen zu einem dünnen Strich. Die Robe umschloss seinen Oberkörper wie das Gewand eines hochrangigen Druiden. Der Schwertgurt führte um die Hüften und quer über die Brust, der
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