Die Hexen - Roman
der Schatten, den wir werfen, wenn wir Magie wirken. Darum halte dich immer im Licht.«
Verwirrt ließ Ravenna sich von der Hexengöttin zum Ausgang führen. Morrigan raffte den zottigen Pelz um die Schultern, als sie zur Seite trat, um die junge Frau vorbeizulassen.
Der Himmel war um ein paar Grade dunkler als vorhin, im Graben war es still. Als sie im Freien stand, drehte sich Ravenna noch einmal um.
»Was ist mir dir?«, fragte sie. »Ich meine, wohin wirst du gehen, wenn alles vorbei ist?«
Morrigans Lächeln verblasste. »Ich kann diesen Ort nicht verlassen«, sagte sie. »Beliar hat den Spieß umgedreht und hält mich nun in seinem Reich fest, so wie ich ihn einst an den Baum der Nacht kettete. Bring den Sieben diese Botschaft, Ravenna. Wirst du das für mich tun?«
Ravenna nickte. Wieder spürte sie den Kloß im Hals, als sie Morrigan ein letztes Mal umarmte. »Ich werde ihnen die Nachricht übermitteln. Das verspreche ich«, flüsterte sie. »Und dann werden wir zurückkommen, um dich zu befreien.«
Mit diesen Worten ließ sie die Hexengöttin los. Vor ihr in der anbrechenden Nacht stand keine Frauengestalt mehr: In jenem Moment, da Morrigan die Höhle verließ, verwandelte sie sich wieder in die Zwielichtbärin, deren Zeit mit der Dämmerung gekommen war. Sterne hatten sich in ihrem Pelz verfangen und es schien, als würde die Sonne in ihrem Rücken untergehen.
Unter der Brücke wurde das Licht dunkler. Ravenna schritt durch den Graben. Auf leisen Sohlen trottete die Bärin hinter ihr her und schnüffelte an dem Schwert, nach dem Ravenna sich bückte. Als sie die Waffe aufhob, richtete die Bärin sich auf den Hinterpranken auf, ein graues, zottiges Tier vor der anbrechenden Nacht.
»Bis bald«, flüsterte Ravenna. »Ich werde zurückkommen. Das schwöre ich.«
Dann drehte sie sich um und eilte zu der schmalen Treppe, die hinter Gestrüpp und Brombeerranken verborgen lag. Mit dem Schwert bog sie die Dornranken zur Seite und hastete die Stufen hinauf. Als sie oben angelangt war, konnte sie endlich sehen, was hinter der Felswand lag, die ihr die Sicht versperrt hatte: Es war der Burggarten. Vom Bärenzwinger stieg das Gelände zwischen den Mauern bis zu einem Spalier aus Apfelbäumen an, das zum Treppenaufgang des hinteren Bollwerks führte. Der Burghof war ähnlich angelegt wie der Garten des Hexenkonvents: Hier wuchsen die Küchenkräuter, dort standen Stangenbohnen und Rüben und dahinter sprossen Schachtelhalm und Fingerhut. Plötzlich wurde Ravenna klar, wohin sie sich wenden musste: zum magischsten Teil der Anlage, dorthin, wo Elinors schwarze Malven wuchsen. Zweifellos hatten Beliars Soldaten Lucian dorthin geschafft, denn im Hexengarten versammelten sich die Gäste.
Ravenna begann zu rennen.
Es ist zu spät
Hecken schirmten den Teil des Gartens ab, in dem Elinors Zauberkräuter wuchsen. Hinter dem Strauchwerk hörte Ravenna Stimmengemurmel und das Klirren von Rüstungen. Wenn der Wind drehte, wehte der Geruch von brennendem Pech zu ihr herüber.
An den Erkern und Wehrgängen, den Zinnen und Türmen hingen Wasserspeier. Aus den Mäulern rann jedoch kein Tropfen Regen. Brodelndes Pech triefte zu Boden, Ruß schwärzte Rachen und Hauer der Kreaturen. Flammen umzüngelten den Stein und tauchten den Burggarten in ein unruhiges Licht.
Im Schatten entdeckte Ravenna Armbrustschützen und Krieger, die mit Hellebarden und Schwertern bewaffnet waren. Sie bewachten die Aufgänge zu den Mauern und zum Bollwerk. Dämonenhelme verdeckten die Gesichter. Umhänge, weich wie Fledermauspelz, wallten bis zum Boden. Dank dieser Ausrüstung wirkte Beliars Garde sehr bedrohlich. Die Männer hielten sich außerhalb des Fackelscheins und standen reglos wie Statuen, doch Ravenna war sich sicher, dass sie auf jede noch so kleine Bewegung achteten.
Sie fürchtete sich vor den Kriegern und ihren Waffen und schlich dennoch auf Zehenspitzen näher. Als sie plötzlich am Arm gepackt wurde, schrie sie vor Schreck beinahe auf. Es war Elinor, die sie zwischen die Büsche zerrte und den Mund dicht an ihr Ohr brachte.
»Wo hast du denn bloß gesteckt? Ich habe überall nach dir gesucht!« Dann rümpfte sie die Nase. »Moderloch und Bärendreck. Du liebe Zeit! Hat die Bärin dich verschont?«
Instinktiv wich Ravenna vor der Marquise zurück. Velascos Worte fielen ihr ein: Elinor soll gute Laune haben, wenn sie sich zu uns gesellt. Von guter Laune konnte jedoch nicht die Rede sein: Ihr schönes Gesicht war vor Wut verzerrt,
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