Die Hexen - Roman
und die Marquise achtete nicht auf Ravennas Hand, die über dem Schwertgriff schwebte. Nein, nicht Wut, dachte sie dann. Elinor hat Angst. Genau wie ich.
»Warum musstest du die Kemenate verlassen?«, fauchte die Burgherrin. »Es war der einzige Ort, an dem du in Sicherheit warst, der einzige Ort, an dem Beliar nichts von deiner Anwesenheit gemerkt hätte. Stattdessen musstest du dich sinnlos mit deiner Schwester herumstreiten und die Aufmerksamkeit der ganzen Festung auf dich ziehen!«
Ravenna atmete tief durch. »Wo ist Yvonne?«
Elinors Finger gruben sich in ihren Arm. »Es ist zu spät«, flüsterte sie. »Wann begreifst du endlich, dass sie nicht mehr umkehren wird?«
Ravenna wollte sich aus dem Klammergriff befreien, doch Elinor zog sie zu einer Stelle, an der die Stechpalmen weniger dicht wuchsen. Nicht einmal das Lavendelöl überlagerte den Geruch von Friedhof und Verfall, der aus den Gewändern der Marquise strömte.
Wortlos deutete Elinor in den Hexengarten. Im Westen bauschten sich Wolken über der Mauer, so tiefrot wie der Faltenwurf von Yvonnes Kleid. Ihre Schwester stand in einem düsteren Kreis, der von den Gästen des Marquis gebildet wurde. Beliar war bei ihr und Velasco ebenfalls. Lucians Vater verharrte mit gesenktem Kopf, die Arme auf dem Rücken verschränkt, und lauschte auf die Rede, die Beliar vor den Besuchern hielt. Um den Hals trug der Hexer den in Gold gefassten Kristall, den Ravenna auf dem Altar in der Grotte gesehen hatte. Er blinkte im Feuerschein. Der Kerl mit dem Mädchengesicht stand neben Velasco und hielt den Drachenpokal in den Händen. Ein Lächeln spielte um seine Lippen. Hin und wieder drehten sich seine Augen in den Höhlen, und dann stand für Sekundenbruchteile ein blinder Engel da, weißäugig und überirdisch schön.
»Was machen die da?«, flüsterte Ravenna. Durch die dichten Hecken konnte sie nicht sehen, ob sich Lucian ebenfalls im Burggarten befand. Beim Gedanken, dass ihm etwas zugestoßen war, wurde ihr ganz elend zumute und der Anblick der finsteren Versammlung verstärkte das beklemmende Gefühl noch.
»Heute Nacht verschachert Beliar unsere Welt«, murmelte Elinor. Vor dem Hintergrund des Blattwerks leuchtete ihr Gesicht wie eine kränkelnde Blüte. »Gerade teilt er die Elemente unter den Fürsten auf. Jeder Vasall erhält Macht über eine Naturgewalt. Velasco wird der Fürst der Erde und unser Freund Damian beherrscht Meere, Nebel und Seen.«
Ravenna keuchte. Endlich wurde ihr klar, was Beliar mit dieser Versammlung bezweckte: Er schwang sich zum Herrscher über die Naturgesetze auf. Sobald er seine Gefolgsleute eingeschworen hatte und den Strom der Magie in seine Richtung lenkte, gewann er unbezwingbare Kräfte. Ein Dämon, der Berge versetzen und Himmel und Hölle nach seinem Willen formen konnte.
»Solltest du nicht auch dort stehen?«, wisperte sie. »Du bist die Marquise und außerdem eine der letzten Tormagierinnen. Ich dachte, Beliar zählt auf dich.«
Elinor musterte sie aus schmalen Augen. »Misstraust du mir immer noch? Ich habe nicht gelogen, Ravenna. Beliar hat seine vier Fürsten versammelt und ich gehöre nicht dazu. Doch ich werde mich rächen. Für jeden einzelnen Tag, an dem er mich um Cedrics Liebe betrog.«
Elinor nahm eine Lederhülle vom Rücken, die sie an einem Riemen über der Schulter trug. Der Sack enthielt die Drehleier, die Ravenna in der Kammer bewundert hatte. Das Holz war mit schwarzem Lack überzogen, Einlegearbeiten aus Messingdraht bedeckten den Korpus und formten magische Zeichen. Die Marquise legte die Hand über die Saiten um zu verhindern, dass der Klang die Wachen alarmierte.
»Ich habe dir nie versprochen, dass du Lucian retten wirst«, raunte sie. »Aber deine Schwester – wenn ich jetzt gleich mit dem Marquis spreche und ihn ablenke, wirst du Yvonne aus diesem Kreis drängen. Sie darf heute Nacht keine der vier Fürsten werden.«
Werden? Ravennas Herz begann zu trommeln. Plötzlich begriff sie: Yvonne war die Einzige in Beliars Runde, die noch am Leben war. Alle anderen Hexer waren untote Wiedergänger: Der König hatte Velasco köpfen lassen, Oriana war auf eigenen Wunsch die Kehle durchgeschnitten worden und auf welche Weise der blonde Lockenschopf namens Damian ums Leben gekommen war, wollte sie erst gar nicht wissen.
»Ich werde tun, was ich kann«, stieß sie hervor. »Aber du darfst nicht springen.«
Elinor, die sich bereits abgewandt hatte, fuhr herum. »Wie bitte? Wie soll ich das
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