Die Hexen - Roman
unverletzt. Die Hauptsache war jedoch: Er war am Leben.
Schwankend und an Ramon geklammert, kam er auf die Füße. »Das Schwert! Ravenna, mein Schwert!«, brüllte er. »Mach schnell! Velasco ist gleich hinter dir.«
Sie warf ihm die Klinge zu, so wie die Steinmetze es manchmal mit den Werkzeugen machten, wenn sie zu faul waren, über die Leitern am Gerüst zu steigen. Dieser Trick war gefährlich und strengstens verboten, aber Ravenna war geübt darin, den Schaft in der Luft so zu drehen, dass ihr Gegenüber ihn leicht zu fassen bekam.
Im nächsten Augenblick duckte sie sich. Lucian fing das Schwert auf und zog es quer gegen die Klinge des Hexers. Der Stahl pfiff über Ravennas gesenkten Kopf hinweg, der metallische Knall gellte ihr in den Ohren, als sie zur Seite taumelte.
Im gewittrigen Licht entdeckte sie einen unbekannten Ausdruck auf Lucians Gesicht: Er hatte die Oberlippe über die Zähne gezogen, Schweiß glänzte auf seiner Stirn und seine Augen funkelten. Der junge Ritter war seinem Vater so ähnlich, dass sie erschrak. Seine Hiebe erfolgten abwechselnd aus einer Drehung der Schultern und der Hüfte, während er Velasco quer durch die Wiese trieb.
»Nein!«, schrie Ravenna. »Lucian! Wir können Beliar und die Fürsten nur mit Magie aufhalten!« Doch er achtete nicht auf sie.
Verzweifelt drehte sie sich um. Zwischen den Menhiren kämpft en Constantin und seine Ritter gegen Beliars schwarzes Heer. Ravenna hatte keine Zeit, auf die Zweikämpfe zu achten oder herauszufinden, zu wessen Gunsten die Schlacht am Rand des Steinkreises wogte.
»Nimm dich in Acht!«, rief sie Ramon zu. Mit wiegenden Hüften näherte Oriana sich dem einäugigen Ritter und er grinste. Er schien sie für ein weiteres, dürres Mädchen aus der Zukunft zu halten – bis sie in ihren Mantel griff und ein halbes Dutzend geschärfter Stahlfedern hervorzog.
Immer wieder flackerten Blitze über den Himmel, Donner grollte. Die Hexen riefen Ravennas Namen und winkten sie hektisch in den Kreis, doch sie hatte nur Augen für ihre Schwester.
Inmitten aufgebauschter roter Seide – so lag Yvonne im Gras. Ravenna hoffte, dass sie nur ohnmächtig geworden war, doch die verkrampfte Haltung und der zurückgeworfene Kopf sprachen eine andere Sprache. Yvonnes Haut war blass wie Marmor, und auf Lidern und Lippen lag ein bläulicher Glanz.
»Du bist ganz kalt! Warte … nimm meinen Mantel!« Ravenna streifte den Hexenumhang ab und verhedderte sich vor lauter Hast darin. Als sie den Kopf endlich aus den Falten befreit hatte, saß Yvonne plötzlich aufrecht im Gras. Sie lächelte. Ihre Augen waren von einem unheimlichen Bleiglanz erfüllt.
»Ich hatte einen Traum«, flüsterte sie. »Es war, als würden mir Flügel wachsen. Flügel aus Feuer.«
Ravenna starrte sie an. »Was war in dem Becher?«, stieß sie hervor. »Verdammt, was hat Beliar dir da eingeflößt? Du musst versuchen, das Zeug auszuspucken!«
Yvonnes Augen richteten sich auf sie, aber ihr Blick schien geradewegs durch sie hindurchzugehen. Ihre Locken hatten dieselbe Farbe wie das Sommergras und sie wirkte beseelt, berauscht – und mächtig.
»Yvy!« Ravenna schlang ihr die Arme um den Hals. Sie hätte ebenso gut eine der Statuen über dem Portal des Münsters umarmen können. Yvonnes schlanker Körper fühlte sich hart und kühl an.
»Bleib hier! Bleib bei mir!«, flüsterte Ravenna ihrer Schwester ins Ohr. Das blonde Haar kitzelte sie im Gesicht. »Ich werde mit den Sieben reden, hörst du? Es kommt alles wieder in Ordnung! Aber du musst vergessen, was Beliar dir eingeredet hat. Jedes Wort war gelogen. Denk an Mémé und dass sie nicht wollte, dass wir jemals getrennt werden! Wir gehören zusammen!«
»Ich konnte die Welt von oben sehen«, wisperte Yvonne. »Es war … magisch.« Sie küsste ihre Schwester auf die Wange und stand auf.
»Dunkle Zauberin«, schluchzte Ravenna und klammerte sich mit aller Kraft an ihre kleine Schwester. »Große Bärin, Göttin der Druiden und Hexen, wir rufen dich und preisen deinen Namen. Morrigan! Bitte mach, dass das alles nicht wahr ist!«
Yvonne schüttelte ihre Hand ab. Ravenna konnte sie nicht festhalten, ihre Finger glitten an der roten Seide ab und plötzlich war sie es, die das Gefühl hatte, ins Bodenlose zu stürzen. Jetzt wünschte sie, Méme hätte ihr und ihrer Schwester den Mund öfter mit Seife ausgewaschen und ihnen jede Art von magischem Geflüster ausgetrieben.
Sie hämmerte mit den Fäusten auf den Boden und sank nach
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