Die Hexen - Roman
Vorstellung. Manche Geheimnisse mussten geheim bleiben, wenn sie weiterhin wirken sollten.
»Ich will diese Ausstellung unbedingt sehen«, sagte sie. »Ich muss wissen, was nach unserem Sprung zurück in die Zukunft passiert ist. Aber jetzt solltest du dir endlich die Schuhe anziehen. Es wird Zeit für uns.«
Auf Lucians Gesicht zeigten sich leise Zweifel. »Denkt Ihr wirklich, es ist eine gute Idee, mich zu Euren Freunden mitzunehmen? Ich meine, die Gesellen der Dombauhütte werden doch bestimmt merken, dass ich bis auf den Bau der Trutzburg kaum Erfahrung in Eurem Gewerbe habe.«
»Deswegen bist du doch hier: um Erfahrung zu sammeln.« Ravenna suchte nach dem Hausschlüssel und fand ihn in einem lackierten Holzkästchen auf der Kommode. »Glaubst du, ich habe dieses Sweatshirt nur so zum Spaß organisiert? Es zeigt ein Steinmetzzeichen, das im Umkreis von Carcassonne üblich war. Du bist ein Handwerksgeselle aus den Pyrenäen, was deinen merkwürdigen Akzent erklärt. Außer romanischen Kapellen hast du von der Welt noch nicht viel gesehen. Glaub mir, wenn Jacques und die anderen wüssten, woher du wirklich kommst, hättest du keine ruhige Minute mehr. Ein Gewährsmann aus dem Mittelalter, jemand, der endlich die Rätsel der Vergangenheit löst. Vermutlich würdest du deine eigene kleine Nische im Museum bekommen.«
Lucian verzog das Gesicht. »Bewahre«, murmelte er. »Wollt Ihr mich wirklich in einen Glaskasten sperren?«
Ravenna lachte. »Keine Sorge, ich werde dich nicht ausliefern! Aber wenn du nicht auffliegen willst, solltest du endlich aufhören, mich wie eine Burgherrin aus dem zwölften Jahrhundert anzureden.«
»Was ist falsch daran?«
Sie seufzte. »Alles«, sagte sie. »Hier bin ich bloß Ravenna von der Dombauhütte, weiter nichts.«
Lucian umfasste ihr Handgelenk. Unter dem Stoff spürte sie die silberne Spange, die das Siegel hielt. Ihr Siegel. Am Mittsommermorgen auf dem Hohen Belchen hatte sie geschworen, den magischen Ring ein Jahr lang zu hüten – bis zum nächsten Hexentanz auf dem Gipfel.
»Ihr seid nicht irgendwer. Niemals. Ihr gehört zu den Sieben, zu den …« Lucian schielte zu dem Flyer, der auf der Kommode lag. »Den Mystikerinnen vom Odilienberg. Und ich bin Euer Ritter und bin Euch gefolgt, um Euch zu dienen und Euch auf der Suche nach Eurer Schwester behilflich zu sein.« Als Ravenna mit den Augen rollte, verbesserte er sich rasch. »Dir. Um dir behilflich zu sein.«
Sie stöhnte verzweifelt auf. »Lucian: Niemand dient mehr irgendwem. Wie oft soll ich das noch sagen? Außerdem redet kein Mensch mehr wie du.«
»Aber du bist doch noch immer eine Hexe. Oder etwa nicht?«
Es war seltsam, als er sie so ansprach. Die vertraute Anrede schuf eine Nähe zwischen ihnen, die vorher nicht da gewesen war. Lucian schien es auch zu spüren, denn er trat einen Schritt zurück und sah sie nachdenklich an.
Ravenna streifte den Ärmel zurück. Sie trug das Siegel an der Armspange, die Esmee ihr geschenkt hatte. Der Ring sah wie ein wunderschönes, antikes Schmuckstück aus, die Steine funkelten im Licht. Er war viel zu kostbar, um ihn bei der Arbeit zu tragen, aber sie wollte ihn nie mehr ablegen. Sie war die Hüterin der Tormagie.
Sie seufzte und zog den Ärmel wieder zum Handgelenk hinunter. »Stimmt«, sagte sie. »Ich bin noch immer eine Hexe. Und ich bin im Auftrag der Sieben hierhergekommen, um nach einer Spur der entflohenen Höllenfürsten zu suchen.« Sie nahm den Flyer, faltete ihn in der Mitte und schob ihn in die Gesäßtasche. »Genau darum geht es. Machen wir erst einen Besuch in der Dombauhütte und dann flanieren wir ein bisschen durch die Ausstellung, einverstanden? Die Bibliothèque Nationale – könnte es einen besseren Ort geben, um mit der Suche anzufangen? Ich glaube kaum.«
Lucian hielt ihr die abgewetzte Lederjacke hin, als wäre es der Reisemantel einer Hexe. »Dieser Gress irrt sich, wenn er glaubt, der Einbrecher werde niemals gefunden. Ich werde ihn aufspüren. Das schwöre ich«, versprach er mit düsterer Miene.
Ravenna zog die Tür hinter sich zu, schloss ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Dann hakte sie sich bei Lucian ein.
Die Jagd hatte begonnen.
Epilog: Feuer und Stein
Straßburg im Jahr 1253
E s war kein guter Tag, um Geschäfte zu machen. Ein wütender Herbststurm zerrte an den Ästen und trug den Gestank, der aus dem Schlachthof drang, über die Dächer. Blätter wirbelten durch den Himmel und klebten auf dem Kopfsteinpflaster,
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