Die Hexen - Roman
Sie schon wieder fort?«, fragte er. »Ich dachte, fürs Erste hätten Sie genug vom Reisen.«
Ravenna führte ihren Gast in die Küche. »Ich bin gerade dabei, mein Leben neu zu ordnen. Nach so viel Aufregung tut das gut.«
»Das – ehm – kann ich verstehen.« Der Kommissar beobachtete sie, während sie den Kessel vom Herd nahm, die Gasflamme abstellte und Tee aufgoss. Offenbar suchte er in ihr eine Spur jener Verrückten, die er in der psychiatrischen Abteilung der Uniklinik verhört hatte. Ein festgeschnalltes Häufchen Elend, das – berauscht von einem Medikamentencocktail – behauptete, der Teufel wäre ihr Therapeut. Alles, was er zu sehen bekam, war eine entspannte junge Frau, die eine Leinenhose und ein grünes Oberteil trug. Ravenna hatte die Haare frisch gewaschen und sich für silberne Ohrringe entschieden. »Es geht mir gut«, versicherte sie. »Wirklich. Warum setzen Sie sich nicht einfach?«
Der Küchenstuhl knarrte, als Gress Platz nahm. Seit ihrem letzten Zusammentreffen schien er noch korpulenter geworden zu sein. Kein Wunder, wenn er ständig im Gasthaus zur Rebe einkehrt, dachte Ravenna. »Wie geht es meinen Eltern?«, fragte sie, während sie mit den Teeutensilien hantierte. »Ich habe langsam das Gefühl, Sie sehen sie öfter als ich.«
»Gut.« Gress nickte ein bisschen zu eifrig. »Es geht ihnen gut. Am Freitag war ich mit Ihrem Vater beim Angeln.«
Über die Schulter warf Ravenna ihm einen langen Blick zu. »Und? Was gefangen?«
Gress war schlau genug, um die Anspielung sofort zu verstehen. Er stützte die Fäuste auf die Tischplatte und schnaufte. »Hören Sie, Ravenna, ich weiß, ich habe Sie im Stich gelassen und Sie haben verdammt Recht, wenn Sie sich über mich lustig machen. Aber wir sind an der Sache dran. Meine Abteilung hat eine Aufklärungsquote, die weit über dem Landesdurchschnitt liegt. Wir werden den Kerl finden.«
Sie kam an den Tisch und goss ihm Tee in seine Tasse. »Machen Sie sich keinen Kopf deswegen. Ich bin über die Sache hinweg.«
Gress runzelte die Stirn. »Sind Sie sicher?«
Ravenna nickte. »Ganz sicher.«
Der Kommissar lehnte sich zurück. Als er die Tasse zum Mund führte, spreizte er den kleinen Finger ab, was Ravenna fast zum Lachen reizte. Sie nahm Gress gegenüber Platz und tippte auf den braunen Umschlag. »Was haben Sie da mitgebracht?«
Er setzte die Tasse ab und zog den Umschlag zu sich heran. Mit dem Autoschlüssel ritzte er die Lasche auf und schüttelte den Ausdruck einer Internetseite sowie einige Fotos auf den Tisch. Die ausgedruckte Seite warb für eine Flotte weißer Ausflugsboote. Ein Teil der Fotos war von der Brücke über der Ill aufgenommen worden. Sie zeigten eines der Boote in der Schleuse. Durch das Glasdach erkannte man eine Festgesellschaft, die sich in der Kabine versammelt hatte. Der andere Teil der Bilder stammte aus dem Polizeiarchiv und zeigte, wie man dasselbe Schiff mittels eines schwimmenden Krans aus dem Fluss zog. Die Fenster waren eingedrückt und der Rumpf mit Schlick überzogen. Der Schlamm verdeckte allerdings nicht das große Pentagramm, das mit groben Pinselstrichen rings um die Heckluke aufgemalt war.
»Birkenteer.« Gress räusperte sich und deutete mit dem Schlüssel auf den Fünfzackstern. »Das Zeug da ist Birkenteer. Jemand hatte mir den Umschlag mit dem Ausdruck zukommen lassen. Jemand Raffiniertes, denn weder am Umschlag noch auf den Papieren sind Fingerabdrücke. Dafür fanden wir umso mehr Fingerabdrücke auf dem Boot. Der Persephone .«
»Ach«, sagte Ravenna. Sie war ehrlich überrascht.
Der Kommissar nickte vielsagend. »Die wenigsten davon konnten wir zuordnen. Genau genommen nur die von zwei Personen, nämlich von Ihrer Schwester und von Doktor Corbeau. Sehen Sie diese Bilder hier?«
Mit dem ausgestreckten Zeigefinger schob er die Fotos der Festgesellschaft über den Tisch. »Schauen Sie genau hin: Hier steht Corbeau und hält eine Rede. Und das ist Ihre Schwester. Die Frau in dem gelben Kleid. Die Fotos hat ein Tourist aufgenommen. Nachdem er den Bericht von der Bergung in der Zeitung gelesen hatte, meldete er sich bei uns und überließ uns die Bilder.
Diese Fotos sprechen Sie von jedem Verdacht frei, Ravenna, denn sie beweisen, dass der Doktor und Ihre Schwester auf der Persephone waren, und zwar an dem Abend, an dem Oriana starb. Der Tourist wusste nämlich noch genau, wann er die Aufnahmen gemacht hatte: Es war sein Hochzeitstag. Sie erinnern sich doch noch, dass wir dieses schwarze
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