Die Hexen - Roman
Zeug auf dem Kleid fanden? Derselbe Teer, dieselbe Zusammensetzung.«
Betrübt starrte Gress auf die Bilder. »Es tut mir leid, dass wir zunächst Sie verdächtigt hatten. Auf dem Boot haben wir eine Menge Beweise gefunden, die darauf schließen lassen, dass Corbeau und seine Freunde okkulte Rituale abhalten.«
Rasch senkte Ravenna das Gesicht zur Teetasse und nahm einen tiefen Zug. Aus Gress’ Mund zu erfahren, dass der Teufel der Mitgliedschaft in einem satanistischen Zirkel verdächtigt wurde – die Beweisführung des Kommissars gefiel ihr immer besser.
»Wir wissen auch, dass Corbeau die Schuld auf Sie abwälzen wollte, um sich nicht selbst zu belasten. Aus dem gleichen Grund hat er das Schiff versenkt. Der Reeder wurde bestochen, damit er den Verlust der Persephone nicht anzeigt. Mit Hilfe der Bilder und des Ausdrucks aus dem Internet haben wir ihn aufgespürt. Es tut mir sehr leid, Ravenna. Mittlerweile liegt ein Haftbefehl gegen Ihren Doktor vor. Allerdings scheint er spurlos verschwunden zu sein.«
»Das macht nichts«, sagte Ravenna. »Und er ist nicht mehr mein Doktor.«
Der Kommissar schaute überrascht zu ihr hoch. »Wie bitte?«
»Es macht mir nun nichts mehr aus, dass Sie zuerst mich im Visier hatten«, erklärte sie schnell. »Jetzt, da alles vorbei ist.«
Langam schüttelte Gress den Kopf. »Tja, das sagen Sie. So etwas darf nicht vorkommen. Die Wochen in der Klinik müssen furchtbar gewesen sein. Und jetzt verraten Sie mir bitte: Wo ist Ihre Schwester?«
Der Kommissar war gerissen. Der Themenwechsel kam so blitzschnell, dass Gress sie an einem anderen Tag vielleicht überrumpelt hätte.
Ravenna hob die Schultern. »Keine Ahnung.« Sie musste nicht einmal lügen, sie wusste es wirklich nicht. Eine rote Reiterin auf einem Pferd mit lodernder Mähne – das war das letzte Bild, das ihr in den Sinn kam. Die Erinnerung war völlig surreal und gespenstisch und sie wusste, dass Gress ihr nicht glauben würde, selbst wenn sie das Erlebnis in noch so leuchtenden Farben schilderte. Wie so vieles andere behielt sie dieses Wissen für sich.
»Vielleicht in der Bretagne. Oder in Südengland«, mutmaßte sie. Es war dieselbe Ausrede, mit der sie auch ihre Eltern beschwichtigt hatte: Yvonne machte eine Reise zu den Megalithkulturen Europas. Es war ein glaubhaftes Argument, denn es geschah nicht zum ersten Mal, dass ihre Schwester aufbrach, ohne ein Wort über ihre Pläne zu verlieren. Mit sechzehn hatte der Vater Yvonne aus einem Aussteiger-Camp in der Provence geholt, wo sie den ganzen Tag getrommelt und Haschisch geraucht hatte. Sie war völlig weggetreten gewesen, als sie nach Hause kam, und hatte drei Tage am Stück geschlafen. Gegen Ende ihrer Ausbildung war sie dann plötzlich nach Australien geflogen, um mehr über die Traumzeit der Aborigines zu erfahren. Es hatte geradezu magischer Überredungskunst bedurft, dass sie die Abschlussprüfung als Bibliothekarin nachholen durfte.
Gress seufzte schwer. »Ich muss sagen, in den letzten achtundzwanzig Jahren ist mir noch kein solcher Fall untergekommen. Als wir uns zum ersten Mal trafen, sah alles nach Einbruch, Vandalismus und Nötigung aus. Dann verschwinden Sie gleich mehrmals hintereinander und man bekommt den Eindruck, Sie verlieren den Verstand. Und jetzt steht Ihre Schwester unter Mordverdacht. Das alles ergibt keinen Sinn.«
»Es tut mir leid.« Diesmal meinte Ravenna es ernst. Sie bedauerte Gress, weil sie genau wusste, dass er niemals verstehen würde, was zwischen Yule und Mittsommer geschehen war.
Sie streckte die Füße unter dem Tisch aus. Vögel zwitscherten und durch das offene Fenster drang das Tuckern eines Motorboots. »Sobald ich etwas von Yvonne höre, rufe ich Sie an. Ehrenwort. Und falls Sie Corbeau sehen …«
»… verhafte ich ihn. Der Doktor steht unter dringendem Tatverdacht.«
Sie nickte zufrieden. In dieser Welt fand Beliar so schnell kein Versteck mehr. Zumindest konnte er sich nun nicht mehr als Gönner und Weltverbesserer ausgeben, wenn sein Fahndungsfoto über dem Schreibtisch jedes Polizisten hing.
Gress erhob sich schwerfällig. »Falls ich irgendetwas für Sie tun kann, rufen Sie mich an. Jederzeit. Ich bin immer für Sie da.«
»Das ist wirklich nett von Ihnen.« Ravenna begleitete den Kommissar zur Tür. Auf der obersten Treppenstufe drehte er sich noch einmal um. Noch so eine Angewohnheit von Polizisten und Anglern, dachte sie. Erst wiegen sie einen in Sicherheit und dann werfen sie einen letzten Haken
Weitere Kostenlose Bücher