Die Hexen - Roman
Altarstein gehauen war, der in einem Steinkreis auf dem Hohen Belchen stand, und sie trank es am Mittsommermorgen nach gefahrvoller Reise. Sie zwinkerte zurück und nahm noch einen Schluck.
An ihrer Seite spürte sie, wie die Spannung von Lucian abfiel. Im Morgenlicht zeigte sich, wie zerschrammt und erschöpft er war. Unter seinen Augen lagen blaue Schatten und er spielte nervös mit dem Ring, den er an der rechten Hand trug. Als sie ihm den Becher reichte, unterließ er das ständige Drehen, Abstreifen und wieder Anstecken und seufzte. Dann trank auch er aus dem Becher.
»Du bist nun ihr Gefährte«, erklärte Aveline. »Magische Gefolgschaft bindet dich an sie, und du schwörst, ihr treu und ergeben zu dienen. Denn sie trägt das Siegel des Sommers. Sie ist die Hüterin und du behütest sie.«
»Das schwöre ich«, sagte Lucian, »und ihr alle seid meine Zeugen.«
Als sie diese Worte hörte, holte Ravenna das Siegel hervor und hielt es in die Höhe, so dass die ersten Sonnenstrahlen durch die Öffnung in der Mitte fielen. Das Licht von Mittsommer war rosenrot mit einem feurigen Kern.
Als die Lichtstrahlen über die Menhire glitt en, begannen die Zuschauer zu jubeln. Hüte, Hauben und Holzschuhe flogen in die Luft und die Menschen rannten auf den Tanzplatz, der nun allen gehörte, nicht nur den Hexen.
Josce nahm ihre Hand. »Ravenna, geboren am Fuß des Odilienbergs in Ottrott, ausgebildet in den Hexenkünsten in nur sieben Tagen, von Morrigan angenommen im Bärengraben auf dem Hœnkungsberg, als alles verloren schien.« An dieser Stelle grinste die Jägerin. Dann schloss sie Ravenna fest in die Arme. »Jetzt bist du eine von uns.«
Entzauberung
Straßburg im Jahr 2011
Durch die Vorhänge in Yvonnes Zimmer sickerte gedämpftes Licht. Alles war unverändert: Ein zerknülltes Handtuch lag auf dem Bett, es gab stapelweise CDs auf dem Nachtkästchen und noch größere Stapel von Schuhen vor dem Schrank. Yvonnes bevorzugter Duft lag noch in der Luft, das Parfüm irgendeines italienischen Designers. Neben dem Handtuch sammelten sich Schminkutensilien und eine Bürste, um deren Stil etliche Haargummis gewickelt waren. Auf dem Schreibtisch häuften sich Bücher, Zeitschriften und ein Mondkalender. Auf dem Kalender lag ein Paar weißer Stoffhandschuhe, dieselben, die Yvonne immer bei der Arbeit getragen hatte, um die kostbaren Schätze der Handschriftenabteilung nicht zu beschädigen.
Ravenna stellte den leeren Koffer auf den Boden. Sie hatte lange gezögert, bevor sie beschloss, das Zimmer ihrer Schwester auszuräumen. Selbst nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, kam es ihr vor wie Verrat. Doch Yvonne lebte nicht mehr in der Dachkammer über dem Ill und sie würde auch nicht zurückkehren – zumindest nicht in nächster Zeit.
Mit einem Ruck öffnete Ravenna die Vorhänge und ließ frische Luft herein. Sie zögerte, bevor sie den Schrank öffnete und das erste Kleidungsstück vom Bügel nahm, doch dann machte sie sich an die Arbeit. Sorgfältig faltete sie die Kleider zusammen, bevor sie die Röcke und Blusen in den Koffer legte. Jede Geste war ein Versprechen, Ausdruck jener verzweifelten Hoffnung, die Damians Worte in ihr geweckt hatten. Yvonne war in einem Netz aus Lügen und Intrigen gefangen, gebunden an einen düsteren Herrn, aber eines Tages würde es ihr gelingen, ihre Schwester zu befreien – an diesen Gedanken klammerte sich Ravenna mit aller Macht. Ich werde dich nicht im Stich lassen, schwor sie, als sie die restlichen Utensilien vom Bett nahm, die Bücher in eine Kiste packte und den Koffer schloss. Ich werde nach dir suchen, ganz gleich, wie lange es dauert, denn ich habe alle Zeit der Welt.
Als sie in den Flur trat, klingelte es. Sie setzte den Koffer ab und drückte auf den Summer für die Haustür. Die Gangart, in der Gress die Stiege hinaufschlurfte, erinnerte Ravenna an einen schuldbewussten Bernhardiner. Eine Hand lag auf dem Treppengeländer, in der anderen trug der Kommissar einen großen, braunen Briefumschlag. Er blickte erst auf der letzten Stufe auf.
»Was machen Sie nur für Sachen.« Das war eine Feststellung, keine Frage. Zweifel stand in seinem Blick, als fürchte er, ihre geistige Gesundheit könne durch seine Anwesenheit Schaden nehmen.
Ravenna lächelte ihn an. »Warum kommen Sie nicht herein?«
Mit dem Fuß stieß sie die Tür hinter sich auf, machte einen Schritt über die Morgenzeitung und ging voraus. Als Gress den Koffer sah, hob er eine Augenbraue. »Wollen
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