Die Hexen - Roman
verschränkten Armen blickte sie zu der Statue empor. »Jahr für Jahr ging ins Land und Elinor verpasste nicht nur eine Schwertleite – o nein! Es müssen fast ein Dutzend gewesen sein. Ich allein wusste, wie sehr sie unter Morrigans Zurückweisung litt. Wir alle hatten erwartet, dass sie eines Tages den Platz der Magierin der Mittsommernacht einnehmen würde. Schließlich ist Melisende nicht mehr die Jüngste. Aber Morrigan ist ihr auch Jahre nach dem Ende ihrer Ausbildung nicht erschienen.«
Schweigend starrte Ravenna die Statue an. Dann ist es also keineswegs sicher, dass ich wirklich die richtige Nachfolgerin bin. Mich muss die Göttin schließlich auch anerkennen, dachte sie.
»Was hat Elinor denn falsch gemacht?«, fragte sie.
»Hier geht es nicht um richtiges oder falsches Verhalten«, erwiderte Viviale. »Es kommt darauf an, welche Absicht hinter deinem Tun steht. Elinor wollte Macht. Leider erkannten wir das viel zu spät. Wir hätten sie gerne behalten, als eine der Ausbilderinnen, als eine unserer Schwestern, die in Land und Stadt höchstes Ansehen genießt. Sie hätte ihr ganzes Leben auf diesem Berg verbringen können. Doch sie hatte keine Lust dazu.«
Viviale schwieg. Aus einer Gürteltasche holte sie ein Leinentuch, putzte sich die Nase und verstaute das Tuch wieder. »An einem stürmischen Winterabend kamen wir alle im Blauen Saal zusammen. Durch einen Boten hatten wir erfahren, dass die damalige Marquise de Hœnkungsberg schwer erkrankt war, und wir berieten, wie der armen Frau zu helfen sei. Es wurde beschlossen, dass Elinor sie aufsuchen sollte, denn wenn es sich um einen Fluch handelte, war sie diejenige, die den Verursacher am ehesten aufgespürt hätte. Als wir ihr unseren Entschluss mitteilten, geriet sie völlig außer sich. Sie dachte, wir hätten einen Weg gefunden, sie loszuwerden. Ehe wir es verhindern konnten und ohne im Recht zu sein, nahm sie auf Morrigans Thron Platz – auf dem gefährlichen Stuhl. Dieser Sitz steht an der Stelle, an welcher der Kraftstrom durch den Felsen fährt.«
Ravenna schluckte. Sie hatte selbst dort gesessen und nicht das Geringste gespürt. Höchstens, dass sie warme Füße bekam, doch dieses Wohlbefinden hatte sie dem Kaminfeuer zugeschrieben.
Schaudernd schob Viviale die Hände in die weiten Ärmel. »Jede andere hätte die magische Entladung getötet. Doch Elinor … es war, als würde man siedendes Öl in ein Feuer gießen. Wir erkannten, dass sie sich auf diesen Augenblick vorbereitet hatte und bereit war, bis zum Äußersten zu gehen, um Morrigans Anerkennung zu erzwingen. Doch es sollte anders kommen.«
Mit einem langen Atemzug lehnte sich die Hexe zurück. »Der Strom wurde sichtbar und sprengte das Dach an dieser Stelle weg. Elinor wurde durch den Raum geschleudert, so dass wir dachten, sie würde sich davon nie wieder erholen. Als sie Platz nahm, hatte sie ein Tor geöffnet und den Strom um eine Winzigkeit zur Seite gelenkt, doch das konnte nicht länger als ein oder zwei Herzschläge gutgehen. Dann brach das Unwetter los. Bäume wurden entwurzelt und das Eingangsgebäude unterspült. Ein Blitz schlug in die Statue ein und zerstörte sie fast. Es schien, als wolle Morrigan den Konvent von diesem Felsen reißen.« Als Ravenna dem Fingerzeig der alten Magierin folgte, entdeckte sie den verästelten Riss, der sich durch die Figur zog.
»Am nächsten Morgen musste Elinor ihre Sachen packen. Wenn wir geahnt hätten, dass ihr nächstes Ziel tatsächlich der Hœnkungsberg war, hätten wir sie aufgehalten. Aber so … von weitem erlebten wir nun, wie sie ihren verderblichen Einfluss auf den Burgherrn und seine Gemahlin ausübte. Die Ärmste starb, kurz nachdem Elinor eintraf, und Cedric, der verliebte Narr, verfiel ihr ganz und gar. Nun ist er tot und ein Dämon herrscht auf der Feste.«
Ravenna zog den Kopf ein. Was sie von Viviale erfuhr, klang keineswegs beruhigend. Bisher war sie immer davon ausgegangen, Beliar sei der Gegner, den die Hexen bekämpften, doch nun wurde ihr klar, dass sie es auch mit Elinor aufnehmen musste. Mit einer voll ausgebildeten, hochbegabten Magierin.
»Und wenn Beliar morgen das Turnier gewinnt?«, klagte sie. »Ich kann doch gar nichts tun! Ich bin erst seit drei Tagen hier.«
»So denkst du jetzt, doch morgen ist ein anderer Tag«, beruhigte Viviale sie. »Jedes Mal, wenn wir Magie wirken, verändern wir uns. Wir wachsen und entdecken neue Stärken in uns. So wird es dir auch gehen. Heute fürchtest du Beliar
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