Die Hexen - Roman
sie zu dem Aussichtspunkt begleiten und ihr Straßburg zeigen. Mir schien, sie wusste sehr viel – von ihrer Welt.«
Als er den Arm sinken ließ, fiel sein Blick auf Ravenna, die reglos auf ihrem Schimmel saß, und er wurde blass. »Herrin – verzeiht mir und meinen Freunden! Wir sind nur ein paar Dummköpfe auf der Suche nach ein wenig Abkühlung. Wir hätten solche Reden nicht führen dürfen.«
Im Handumdrehen knieten er und Constantins fröhliche Schar vor ihr im Gras. Geschickt schwang sie ein Bein über das Sattelhorn und sprang ab. »Solche Reden machen mir nicht viel aus«, erklärte sie, »und dumme Sprüche bin ich auch aus meiner Welt gewohnt. Lasst euch durch mich nicht von der Arbeit abhalten. Ich habe ohnehin nur einen von euch gesucht. Lucian?«
Er hob den Kopf, und sein Blick wirkte wie ein elektrisierender Schlag auf sie. Seine Augen glänzten, Grassamen und einzelne Halme klebten an seiner Brust.
Ravenna lächelte steif, um sich nicht anmerken zu lassen, welche Wirkung seine Gegenwart auf sie hatte. »Kann ich dich kurz sprechen?«
Langsam gingen sie am Ufer entlang, an einem Flussarm des weit verzweigten Rheins. Holunder blühte in den Auen und auf den Inselchen im Fluss. Die Weiden am Ufer ließen ihre Zweige im Wasser treiben. Ravenna beobachtete einen Graureiher, der an einer flachen Stelle unbeweglich wie auf Stelzen stand.
»Wie still und friedlich es hier ist«, murmelte sie. Als wäre nichts von den dramatischen Ereignissen wahr, über die sie noch vor zwei Stunden mit Viviale gesprochen hatte.
»Ja, das ist ein schöner Ort«, bestätigte Lucian. »Ich komme gerne hierher, wenn ich etwas Abstand vom Treiben in der Burg brauche. Allerdings habe ich nur selten Gelegenheit dazu.«
In Beinlingen und langen Schaftstiefeln schritt er neben ihr her. Ab und zu schwenkte er das Hemd, das er zusammengerollt in der Hand trug, um aufdringliche Stechmücken zu vertreiben.
»Du musst mir noch etwas versprechen«, bat sie und er blieb stehen. »Nimm morgen nicht an diesem Lanzenstechen teil. So oder so wird es einen Sieger geben, und ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt.« Oder dass du es bist, der morgen Abend aufgebahrt in der Grotte liegt, fügte sie in Gedanken hinzu. Ich könnte es nicht ertragen, an deinem Tod schuld zu sein.
Lucians Gesicht nahm einen düsteren und enttäuschten Ausdruck an. »Alles andere verlangt von mir, aber nicht das!«, stieß er hervor. »Meine Freunde werden mich für einen Feigling halten und König Constantin könnte mich nicht länger in seiner Burg behalten. Dann müsste ich Landsberg verlassen und mir einen neuen Herrn suchen. Wisst Ihr überhaupt, wie lange ich mich auf diesen Tag vorbereitet habe? Ich war acht, als ich hierherkam, um ein Ritter des Lichts zu werden, denn genau das bedeutet mein Name.«
Warum wissen in dieser Welt bloß immer alle ganz genau, was sie wollen?, dachte Ravenna. Ärgerlich warf sie einen Stein ins Wasser. Der Reiher erschrak, flatterte auf und flog davon.
»Verzichte auf die Herausforderung, nur dieses eine Mal«, flehte sie. »Tu es mir zuliebe! Meinetwegen kannst du allen erzählen, dass ich dich dazu überredete. Dann bin ich eben der Feigling und nicht du. Von einem unglücklichen Mädchen glaubt man das bestimmt.«
Lucian senkte den Kopf und verknotete das Hemd, das er in den Händen trug. Das Haar fiel ihm in die Augen, und bevor er Ravenna wieder anblickte, schüttelte er die Strähnen mit einer Kopfbewegung zurück. »Nein«, sagte er. »Ich kann nicht. Meine Rüstung steht bereit und mein Pferd ist frisch beschlagen. Ghost brennt auf den Kampf. Ich muss Euch Eure Bitte leider abschlagen.«
»Ich werde an Mittsommer nicht mehr hier sein«, rief Ravenna verzweifelt. »Auch wenn ihr es euch noch so sehr wünscht. Begreif doch – ich gehöre nicht in eure Welt! Ich bin bloß ein Gast hier mit einem Auftrag, und sobald ich meine Aufgabe erledigt habe, kehre ich in meine Zeit zurück. Es nützt dir nichts, selbst wenn ich dein Schwert morgen weihe. Eines Tages wirst du eine andere Magierin kennenlernen, eine andere Frau.«
Lucians Gesicht nahm einen traurigen Ausdruck an. »Ich werde Euch nicht aufhalten, wenn Ihr zurückkehren müsst, obwohl ich Euch sogar in Eurer Welt treu dienen würde«, sagte er leise. »Aber dieses eine Mal, zur Beltainezeit …« Er verstummte.
Betroffen erkannte Ravenna, dass er sie wirklich mochte. Er tat nicht nur seine Pflicht oder fiel auf einen verzauberten Gürtel herein. Sie
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