Die Hexen - Roman
schlafen müssen. Diese Verwüstung beseitigen wir nicht so schnell«, rief ihr die Wirtschafterin zu. »Ihr könnt von Glück sagen, dass Ihr Eure Kleider in der Truhe aufbewahrt, die das Feuer nur von außen angekohlt hat.«
Viviales Gesicht verfinsterte sich noch mehr. »Komm mit«, forderte sie Ravenna auf. »Dann werde ich dir berichten, was sich damals zugetragen hat.«
Die Zauberin führte sie zu dem schmalen Weg, der sich außen um den Konvent zog. Nur ein Fußbreit Fels und ein hüfthohes Mäuerchen trennten die Spaziergängerinnen vom Sturz in die Tiefe. Über den Dächern sah man die Statue der Hexengöttin.
»Schau sie an!«, verlangte die Magierin.
Ravenna musste den Kopf in den Nacken legen, um der Figur ins Gesicht zu sehen. Morrigans Züge wirkten ernst und in sich gekehrt. Zugleich schien sie auf alles zu lauschen, was um sie herum geschah. Efeu rankte sich um ihre nackten Zehen und auf ihrer linken Schulter saß eine Kohlmeise.
»Morrigan sieht alles und weiß alles, was in der Welt geschieht«, sagte Viviale leise. »Es heißt, wir hätten es ihr zu verdanken, dass der Strom zu fließen begann. Sie war eine Gelehrte, eine Hexe aus dem Westen, die entdeckte, wie man den Fluss der Magie in Gang setzte. Angeblich überlistete sie einen Drachen, der ihr das Geheimnis verriet. Vielleicht ist dir schon aufgefallen, dass es an ihrem Platz kein Siegel gibt.«
Ravenna nickte.
»Das liegt daran, dass es zu Morrigans Zeit noch keine Siegel gab. Die Magie war noch nicht aufgeteilt in die unterschiedlichen Gaben, sie war der Strom. Erst in späteren Zeiten wurde die Magie genauer untersucht und den verschiedenen Zwecken zugeordnet, die wir heute kennen. Es war gefährlich, damit umzugehen, viel gefährlicher, als es heute ist. Als Morrigan starb, wurde sie von diesem großen Strom mitgerissen. Sie wurde eins mit ihm, als sie versuchte, ihren ärgsten Widersacher zu bezwingen, einen mächtigen Druiden, der ihrer Entdeckung misstraute und sie herausgefordert hatte. Die Bezeichnung Göttin ist deshalb etwas irreführend. Eigentlich war sie so etwas wie die Königin der Hexen.«
Schweigend hörte Ravenna den Bericht der älteren Magierin an. Sie saßen auf dem Mäuerchen und hielten den Blick auf die Statue gerichtet. Viviale seufzte.
»Jedenfalls gehen wir davon aus, dass ein Teil von ihr in diesem großen Strom zurückgeblieben ist. Ihre Seele, wenn du willst. Der Strom hat sie aufgenommen, weil sie diejenige war, die ihn zur Erde lenkte. Manchmal ist es so, dass wir ihr begegnen. Zumindest glauben wir, dass sie es ist: ein körperloses, rein magisches Wesen. Es ist seltsam, wenn es sich zeigt, denn es geschieht meistens völlig unerwartet und überraschend. Wir nennen das die Anerkennung durch Morrigan. Es ist, als würde uns der Strom ebenfalls in sich aufnehmen, allerdings ohne uns zu töten.«
»Das ist die Voraussetzung, um eine der Sieben zu werden«, sagte Ravenna. Sie erinnerte sich, dass Aveline ihr von diesem letzten Schritt einer Ausbildung erzählt hatte.
Viviale nickte. »In der Magie ist Morrigan immer gegenwärtig, ob auf dem Thron im Blauen Saal, im Augenbrunnen oder in diesem Moment, während wir hier sitzen und miteinander reden. Diese Stelle war Elinors Lieblingsplatz. Hier saß sie stundenlang und blickte zu der Statue empor oder vertiefte sich in ein Buch. Ich liebte sie wie eine Schwester.«
Überrascht von diesem Eingeständnis sah Ravenna die alte Zauberin an. Ein schmerzlicher Ausdruck zeigte sich in Viviales Gesicht. »Jemanden mit Elinors Gabe findet man nur sehr selten«, murmelte sie. »Sie war nie zufrieden mit dem Erreichten. Ihr Ehrgeiz machte sie so gut und zugleich so gefährlich. Sie durchlief ihre Ausbildung in kürzester Zeit und als eine der besten Magierinnen, die je auf dem Odilienberg unterwiesen wurden.«
»Aber sie wurde nie zur Schwertleite eingeladen«, warf Ravenna ein. »Und das bedeutet, dass sie sich nie einen Gefährten genommen hat. Aber warum nicht?«
»Sie wurde nie in den Zirkel der Sieben aufgenommen«, erklärte Viviale. »Sie erhielt nie eines der Siegel, so sehr sie es sich auch wünschte. Mit großem Können und ausreichend Wissen ist es noch lange nicht getan, Ravenna. In der letzten Prüfung muss eine Zauberin der Königin der Hexen begegnen. Morrigan führt sie in ihre magische Aufgabe ein – niemand sonst. In Elinors Fall ist das jedoch nie geschehen, sooft sie auch hier stand und Morrigan anflehte, sich ihr zu zeigen.«
Mit
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