Die Hexen - Roman
goldenen Pokal.
Mit einem unguten Gefühl dachte Ravenna an den schwarzen Ritter, der Josce und sie im Wald verfolgt hatte. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass er bereits eine Zauberin in seiner Gewalt hatte. Oder waren die beiden vielleicht Verbündete im Kampf gegen die Sieben? Sie erinnerte sich dumpf daran, dass auch Lucian einmal die Marquise erwähnt hatte.
Sie leckte sich über die trockenen Lippen. »Na schön, dieser Beliar ist ein echter Finsterling. Aber der Teufel – findet ihr das nicht ein bisschen übertrieben?«
»Er ist der Leibhaftige«, flüsterte eines der Mädchen. »Der größte Dämon, den es je gab. Man sagt, er habe Elinors Ehemann mit einem einzigen Schwertstreich getötet.«
»Der Mord geschah auf ihren Wunsch hin«, wusste eine andere Jungmagierin zu berichten. »Seitdem sind auf Burg Hœnkungsberg alle Bäume verdorrt.«
»Und Elinor hat ihre Seele verloren«, flüstere Florence. »Jetzt gehört sie ihrem Ehemann mit Haut und Haaren.«
Ravenna wurde zunehmend nervöser, Angst überkam sie. »Nun hört schon auf mit diesem Gerede!«, fuhr sie die Mädchen an. »Wenn Beliar morgen besiegt wird – und das wird er –, zeigt sich, dass er nichts weiter als ein Großmaul und ein Betrüger war.« Das Zittern in ihrer Stimme strafte ihre Worte Lügen.
Schweigend starrten die anderen Mädchen sie an. »Ihr irrt Euch, Herrin«, sagte Florence leise. »Wenn Beliar morgen besiegt wird, und das hoffen wir alle, fangen die Schwierigkeiten erst an. Ihr müsst Melisendes Siegel zurückholen und in den Kreis der Geweihten einfügen, sonst wird der magische Strom unterbrochen. Und das wäre das Ende.«
Mit wütenden Schritten stapfte Ravenna auf ihr Zimmer. Warum hatte ihr niemand gesagt, dass ihr Abenteuer auf dem Hexenberg mit dem Turnier noch nicht ausgestanden war? Erst der Wettkampf, dann die Schwertleite und nun war es angeblich auch noch ihre Aufgabe, den Diebstahl an dem Siegel aufzuklären! Keine der Sieben hatte sie darauf vorbereitet, dass ihr noch eine weitere Prüfung bevorstand, ehe sie endlich heimkehren durfte.
Vor der Tür blieb sie stehen und fing an zu rechnen. Von Beltaine bis Mittsommer waren es genau sieben Wochen. Sie erinnerte sich wieder, dass Lucian zu ihr gesagt hatte, sie solle in der kürzesten Nacht des Jahres Melisendes Platz einnehmen. Doch wozu soll das gut sein?, fragte sie sich. Und wie, bitte schön, soll ich das verschwundene Siegel bis dahin herbeischaffen?
Sie hatte keine Ahnung, wo sie mit der Suche nach dem Silberschatz der Hexen beginnen sollte. Vielleicht auf Burg Hœnkungsberg?, sagte sie in Gedanken zu sich und lachte tonlos. Von Hunderten von Burgen und Ruinen, die auf den Höhenzügen der Vogesen thronten, war die Festung auch in ihrer Zeit noch das größte und mächtigste Bauwerk. Liebevoll hatte man die Ruinen wieder instand gesetzt. Ravenna erinnerte sich an die breite Sternschanze, das Bollwerk mit den Wachtürmen und die unterirdischen Gänge, die sie auf vielen Streifzügen erkundet hatte. Hunderte von Kriegern fanden in der Burg Platz, die nun dem schwarzen Marquis gehörte.
Falls Beliar morgen gewinnt, soll ich ihn dann vielleicht höflich bitten, mir das Siegel auszuhändigen? Je mehr Ravenna über den Tag des Turniers nachdachte, desto aussichtsloser schien ihr das Unterfangen. Doch aus irgendeinem Grund hielten die Sieben sie für eine mächtige Zauberin und trauten ihr zu, Melisendes Siegel zurückzuholen! Über so viel Zuversicht konnte sie nur den Kopf schütteln. Und wenn ich mich nun einfach weigere?, überlegte sie. Doch dann fiel ihr Blick auf den langen Seidenrock und die rote Hülle, die sie in der Hand hielt, und ihr wurde klar, dass sie sich schon viel zu weit in die Welt der Hexen gewagt hatte.
Sie trat in ihre Kammer und nahm mit entschlossenen Handgriffen Schleier und Geschmeide ab, zog das Kleid aus und zerrte sich die grünen Bänder aus dem Haar. Dann verstaute sie die Sachen samt dem Gürtel und dem Hexendolch in der Truhe. Morgen würde sie die Gewänder lange genug tragen, doch heute mussten die verwaschene Jeans und das T-Shirt genügen.
Ungeduldig begann sie, nach dem verschollenen Salamander zu suchen. Warum achteten die Mädchen nicht besser auf ihre Haustiere?, fragte sie sich, als sie das Kissen hochhob und Laken und Wolldecke ausschüttelte. In jedem anderen Internat wären vierbeinige Mitbewohner verboten – noch dazu solche, die siebenhundert Jahre später unter Naturschutz standen. Als sie die Matratze
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