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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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trat zu ihm und fasste ihn an der Hand. Die Schwielen an seinen Fingern fühlten sich wie kleine, harte Knubbel an.
    »Ich habe Angst um dich. Kannst du das verstehen?«, fragte sie.
    Lucian seufzte. »Als ich Euch vorhin auf Willow sah, glaubte ich schon, Ihr wärt gekommen, um mir Glück zu wünschen«, entgegnete er. »So ist es üblich, wenn eine Frau hofft, dass ein bestimmter Ritter das Turnier gewinnt. Ist das in Eurer Zeit nicht mehr Brauch?«
    Ravenna schüttelte den Kopf. »Keine Turniere und keine Schwertkämpfe mehr«, sagte sie. »Tut mir leid.« Die Strahlen der Abendsonne fielen auf sie und tauchten die Stämme der Weidenbäume in ein weiches Licht. Behäbig zog der Fluss vorbei. Möwen schaukelten auf den Wellen.
    »Du findest mich also nicht zu dürr, wie dieser … dieser Ramon behauptet?«, fragte Ravenna schließlich.
    Ein Lächeln huschte über Lucians Gesicht. »Ach, Ihr dürft ihn nicht beim Wort nehmen. Ramon ist ein Frauenheld und hinter allem her, was nicht beim neunten Glockenschlag in der Stube sitzt. In meinen Augen seid Ihr …« Er sah sie an. »Ihr seid außergewöhnlich. Ich habe noch nie eine Frau wie Euch getroffen.«
    »Dann will ich dir Glück wünschen«, flüsterte Ravenna. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihn zu küssen. Zuerst wirkte Lucian überrascht, beinahe erschrocken. Dann legte er die Arme um ihre Hüften und zog sie dicht zu sich heran.
    Mit allen Sinnen nahm Ravenna diese Berührung wahr. Sie spürte die raue Haut an seiner Wange und atmete den Duft von frisch gemähtem Gras, von Schweiß auf sonnenbeschienener Haut. Seine Arme waren warm und stark und magischer als jeder Gürtel.
    So unvermittelt, wie Lucian sie zu sich gezogen hatte, ließ er sie wieder los. »Das hätten wir nicht tun dürfen«, stieß er hervor. »Nicht, bevor das Turnier morgen entschieden ist, denn nun haben wir den Sieger um den ersten Kuss betrogen.«
    »Ich komme aus der Zukunft und ich küsse, wen ich will«, erklärte Ravenna. »Oder glaubst du vielleicht, wenn es Beliar ist, werde ich ihn genauso herzlich umarmen? Nun tu, was du nicht lassen kannst, und zieh in den Kampf. Morgen um diese Zeit holte ich mir einen weiteren Kuss von dir. Das verspreche ich!«

Sieger und Verlierer

    Der junge Ritter Marlon wurde im Morgengrauen zu Grabe getragen. Er erhielt einen Ehrenplatz in der Feengrotte im Felsen unterhalb der Burg. Dort hatten seine Freunde fast die ganze Nacht Wache gehalten.
    Alle waren zu dem Begräbnis gekommen, sogar die hohen Herren aus der Stadt. Schweigend und in betrübte Gedanken versunken, standen die Gäste im Eingangsbereich der Höhle und erwiesen dem Ritter die letzte Ehre. Der Bischof sprach einige Worte, dann hob Mavelle die Arme und hüllte den Leichnam in Zedernrauch.
    Gebannt beobachtete Ravenna, wie sich die Schwaden über Marlons Körper ballten. Eine Laute erklang und die zierliche Elfe begann zu singen. Als ihre Stimme die Grotte erfüllte, kam plötzlich Leben in die Wolke. Ravenna hielt den Atem an – Aveline hatte sie vorgewarnt, dass etwas Derartiges geschehen würde. In rauchgrauen, unscharfen Bildern erlebte Ravenna, wie das Kind Marlon geboren wurde, wie es in der Burg seiner Eltern aufwuchs und wie der Jüngling an Constantins Hof geholt wurde. Dann wurde Marlon zum Ritter geschlagen und er blieb es bis zur Stunde seines Todes.
    Der König weinte, und Ravenna spürte, wie auch ihr Tränen über die Wangen rollten. Wütend wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen und starrte zur Marquise de Hœnkungsberg hinüber. Wie konnte Elinor es wagen, zu dem Begräbnis zu erscheinen! Wusste sie nicht, dass es die Krieger ihres Gatten gewesen waren, die den jungen Ritter erschlagen hatten?
    Erbittert beobachtete sie, wie die Marquise eine weiße Rose auf die Brust des Toten legte und ihn auf die Stirn küsste. Eines musste man Elinor lassen: Sie war sehr schön. Sie trug ein Kleid aus schwarzer Seide, einen Spitzenschleier und einen Kranz aus schwarzen Malven im Haar. Sogar ihr Schmuck war schwarz und inmitten von so viel Dunkelheit leuchtete ihr Gesicht wie Elfenbein.
    Als sie Ravennas Blick spürte, lächelte sie. Lynette ging dicht hinter ihr und trug die Schleppe wie den Schleier einer trauernden Braut.
    »Marlon war Elinors Neffe«, hauchte Aveline ihr ins Ohr. Offenbar hatte sie Ravennas herausfordernden Blick bemerkt. »Dritten oder vierten Grades ist Elinor sogar mit dem König verwandt. Sie hat das Recht, an der Feier

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