Die Hexenjagd von Salem Falls
Sie einbuchten.«
Jack machte keine Anstalten aufzustehen. Wes setzte sich seine Mütze auf und stürmte wütend nach draußen. Addie , dachte Jack. Ich habe es für Addie getan .
»Bist du verrückt?« Sie beugte sich zu ihm hinunter, bis ihr Gesicht mit seinem auf einer Höhe war, die Augen hart und kalt. »Er ist Polizist, Jack. Er könnte einer kleinen Restaurantbesitzerin das Leben ganz schön schwer machen. Und wahrscheinlich wird er mir beim nächsten Mal nur noch mehr zusetzen.«
Jack stand mit einem Ruck auf, zog sich seine Jacke an und ging zum zweitenmal an diesem Tag, ohne Addie zu sagen, wohin und warum.
Chloe unter Wasser, das war Addies stärkste Erinnerung an sie. Chloe war sieben gewesen, als Addie genug Geld zusammengekratzt hatte, um mit ihr in die Karibik zu fahren. Sie hatten ein kleines Haus direkt am Strand gemietet, Palmwedel streiften die verwitterten Fensterläden und jeden Morgen lag eine neue Kokosnuß im Sand.
Eines Nachmittags sah Addie, wie Chloe unermüdlich unter Wasser hin und her schwamm, als wollte sie einen Rekord aufstellen. »Was machst du denn da?«
»Ich bin eine Nixe. Guck doch mal.«
Also war Addie mit der Tauchermaske ihrer Tochter ins Wasser gewatet. Chloe schlängelte sich durch das Wasser: die Beine geschlossen, die Hüften leicht wiegend, die hellblonden Haare hinter sich herwogend. Durchs Wasser hindurch sah Addie die zitternde Sonne, gelb wie ein Eidotter. Plötzlich drehte Chloe sich um und blickte sie an, mit großen Augen, das Gesicht sanft von ihrem Haar umspielt, die Arme blau getönt von den Schatten des Meeres.
Addie erinnerte sich, daß sie als kleines Mädchen im Swimmingpool des Christlichen Vereins junger Frauen auch manchmal Nixe gespielt hatte. Da war sie für kurze Zeit sogar überzeugt gewesen, wirklich eine zu sein – daß ihre Beine aus einem geschuppten Schwanz bestanden, daß ihre Lungen Wasser atmen konnten, daß die breiten Oberschenkel der Frauen, die im Pool Wasseraerobic machten, sich in Korallensäulen verwandelt hatten. Unter Wasser war die Welt eine andere, und man konnte sein, was man wollte. Unter Wasser bewegte man sich langsam, so langsam, daß man vielleicht niemals erwachsen werden mußte.
An dem Tag, als Chloe gestorben war, hatten die Krankenschwestern Addie eine Stunde lang allein bei ihrem Leichnam sitzen lassen. Addie hatte die Bettdecke ganz eng um Chloes reglose Beine gelegt. Sie hatte mit angesehen, wie diese dünnen Ärmchen ganz allmählich blau wurden; sie hatte gesehen, wie Chloes Wangen und Schläfen an den Stellen naß glänzten, wo ihre eigenen Tränen hingefallen waren – und sie hatte gedacht, Du bist eine Nixe, Schätzchen .
Sie hatte gedacht, Warte auf mich .
Die Neurologen im Krankenhaus hatten dergleichen noch nie erlebt: Ein Mann, der unter den Folgen eines schweren Schlaganfalls litt, stand plötzlich auf und fing seinen Tag an, als wäre nichts geschehen. Doch die Krankenschwestern hatten es mit eigenen Augen gesehen: Stuart Hollings, der nicht sprechen und eine Hälfte seines Körpers nicht bewegen konnte, war morgens aufgewacht und hatte sein Frühstück verlangt – und dann gedroht, nach Hause zu gehen, als er es nicht schnell genug bekam.
Drei Stunden nachdem er kräftig gefrühstückt hatte und die neurologischen Untersuchungen abgeschlossen waren, erklärten die Ärzte Stuart für so weit genesen, daß er sich zu Hause auskurieren könnte.
Im Polizeirevier von Salem Falls wurden sämtliche Beamten routinemäßig über potentielle Probleme unterrichtet, auch über Straftäter, die nach der Entlassung aus dem Gefängnis in die Stadt gezogen waren, obwohl dieser Fall zuvor nie eingetreten war.
Diesen Teil seines Jobs konnte Charlie nicht ausstehen – und genau wegen dieser Aversion wäre er vermutlich von der Uni geflogen, wenn er Jura studiert hätte. Er war sicher, daß man in den Köpfen der Leute nur den leisesten Zweifel zu säen brauchte, und schon würden sie jede neu sprießende Pflanze mitsamt der Wurzel als potentielles Unkraut ausreißen, auch wenn vielleicht bloß ein harmloses Gänseblümchen daraus geworden wäre.
Andererseits war natürlich nicht auszuschließen, daß St. Bride sich an einer Schülerin der High-School vergriff, und dann würde Charlie es bedauern, daß er nicht auf großen Plakaten vor ihm gewarnt hatte.
Er fing an, auf seinem Laptop ein Memo zu tippen, das noch am selben Tag über die hausinterne Post verteilt werden sollte. Er hatte gerade die
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