Die Hexenjagd von Salem Falls
ihre Kindheit erinnerten: Holzrauch und Zimt und dünne kubanische Zigarren. Sie überließ sich dem Duft, schloß die Augen. »Wie wär’s mit einem kleinen Rundgang durchs Werk? Du weißt doch, wie sich immer alle freuen, dich zu sehen.«
Im Grunde wollte er nur wieder mit seiner Tochter angeben. Gilly war immer verlegen, wenn sie durch die Fabrik ging, den zahnlückigen Arbeitern zunickte, die ihr höflich zulächelten, aber dabei im stillen dachten, daß sie in einer Woche weniger verdienten, als Gillian an Taschengeld bekam.
Sie betraten die Fertigungshalle. Höllischer Krach schlug ihnen entgegen. »Heute produzieren wir Preventa«, brüllte ihr Vater ihr ins Ohr. »Die Pille danach.«
Er führte sie zu einem Mann, der mit einem Ohrenschutz im Kreis herumging. »Hallo, Jimmy. Erinnerst du dich noch an meine kleine Tochter?«
»Klar doch. Hallo, Gillian.«
»Entschuldige mich einen Moment, Schätzchen«, sagte Amos, und dann erkundigte er sich bei Jimmy nach Lagerbeständen und Auslieferungen.
Gillian schaute zu, wie die Maschinen stampfend und mahlend die Zutaten abmaßen: Levenorgestrel und Äthynilestradiol. Das Gerät neben ihr füllte durch einen schmalen Schlitz frisch geformte Pillen, die dann in kindersicheren Verpackungen landen würden.
Sie griff blitzschnell in die Sortierschale und nahm ein paar Pillen.
Sie hatte die Hand noch tief in der Hosentasche, als Amos sich umdrehte. »Ich langweile dich wohl zu Tode, was?«
Gilly lächelte ihren Vater an. »Noch nicht.«
Im nachhinein dachte Addie, das Ganze hätte eigentlich viel beängstigender sein müssen: kurz vor Mitternacht auf einen Friedhof zu schleichen, mit einem Mond wie ein großes, blutunterlaufenes Auge am Himmel. Doch plötzlich fand sie nichts dabei, daß sie sich im Stockfinstern Zugang zu einem Friedhof verschaffte, daß sie zum erstenmal nach so vielen Jahren das Grab ihrer Tochter besuchte. In dem Moment zählte nur, daß jemand bei ihr war, als sie diesen gewaltigen Schritt tat.
Wärme schwebte vom Boden hoch, alte Seelen schlängelten sich zwischen Addies Beinen hindurch. »Als ich auf dem College war«, sagte Jack, »hab ich mich öfters mit meinen Büchern auf den Friedhof verkrochen.«
Sie wußte nicht, wovon sie mehr überrascht war: von dem, was er getan hatte, oder von der Tatsache, daß er es ihr überhaupt erzählte. »Hattet ihr denn keine Bibliothek?«
»Doch. Aber auf dem Friedhof war es ruhiger. Manchmal hab ich noch einen Picknickkorb mitgenommen, und –«
»Einen Picknickkorb? Das ist ja krank. Das ist –«
»Ist es das da?« fragte Jack, und Addie sah, daß sie vor Chloes Grab standen.
Als sie es zuletzt gesehen hatte, bestand es aus nackter Erde, bedeckt mit Rosen und Kränzen von mitfühlenden Menschen, die keine Worte fanden und statt dessen Blumen brachten. Jetzt stand dort auch ein Grabstein aus weißem Marmor: CHLOE PEABODY , 1979–1989. Addie blickte zu Jack hoch. »Was glaubst du passiert … na ja … wenn man gestorben ist?«
Jack steckte die Hände in die Jackentaschen und zuckte die Achseln, wortlos.
»Früher hab ich gehofft, daß wir, wenn wir unser altes Leben aufgeben, ein neues bekommen.«
Ein Schnauben zerschnitt die Luft zwischen ihnen, Jacks Antwort.
»Dann … danach … hatte ich diese Hoffnung nicht mehr. Ich wollte nicht, daß Chloe die kleine Tochter von irgend jemand anderem wird.« Addie maß behutsam ein Rechteck um das Grab herum ab. »Aber irgendwo muß sie doch sein, oder?«
Jack räusperte sich. »Die Inuit sagen, daß die Sterne Löcher im Himmel sind. Und jedesmal, wenn wir die Menschen, die wir geliebt haben, hindurchscheinen sehen, wissen wir, daß sie glücklich sind.«
Sie beobachtete, wie Jack zwei leuchtende Blüten aus der Tasche nahm und sie aufs Grab legte. Sie stammten von dem Schnittlauch, den Delilah auf der Fensterbank zog, und hoben sich als lila Tupfen von dem Grabstein ab.
Zu dieser nächtlichen Stunde war der Himmel weit aufgerissen, Sterne breiteten sich wie eine Geschichte am Horizont aus. »Diese Inuit«, sagte Addie, und Tränen strömten ihr über die Wangen. »Ich hoffe, sie haben recht.«
Addie zitterten die Hände, als sie Jack zur Wohnung ihres Vater begleitete. Spürte er es auch, jedesmal, wenn sie mit den Schultern aneinanderstießen? Wenn er in einen Raum kam, in dem Addie bereits war, merkte er dann, daß die Luft um sie beide herum sich zusammenzog? Es war ein ganz neues Gefühl für sie, in der Gesellschaft eines Mannes sein
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