Die Himmelsbraut
Antonias großer Überraschung aber hatte Mutter Lucia auch ein Exemplar des
Neuen Testament Deutsch
aus dem Eichenholzschrank gezogen und in die Reisetruhe gelegt.
«Die Gegend oben in den Bergen ist arm – da wird wohl kaum jemand der lateinischen Sprache mächtig sein.» Sie hatte ihr zugezwinkert. «Vielleicht kannst du ja den dortigen Priester dazu bringen, die Schriftlesung auf Deutsch zu halten. Und wenn nicht, dann wirst du es sicher anderweitig nutzen können.»
Dann hatte sie ihr erlaubt, sich selbst ein Buch auszusuchen. Antonia hatte sich für die
Physica
von Hildegard von Bingen entschieden, jene höchst gebildete, unerschrockene Äbtissin und Visionärin, die die Stirn gehabt hatte, sich mit Papst und Kaiser zu messen, die durch die Lande gereist war, um vor Volk und Geistlichkeit gleich einem Mann zu predigen. Bewies Hildegard nicht, was die Kirche seit Jahrhunderten leugnete? Dass nämlich die Frau berechtigt und befähigt war, ihren Verstand zu benutzen und große Dinge zu bewegen?
«Wir sind bald da!», hörte Antonia die Priorin rufen. «Die Stadt dort vorne ist Freiburg.»
Freiburg! Das also war die Stadt, in der Bernward studiert hatte. Bernward, ihr älterer Bruder, ihr Beschützer. Der heute vielleicht als Doctor der Medizin seine Schüler unterrichten würde, wäre er nicht damals … Nein, sie wollte nicht daran denken.
Sie standen an der Furt eines Flusses, der wildes Wasser führte. Die Ebene auf der anderen Seite endete vor den Mauern und Türmen einer Stadt, die von einem zierlichen und zugleich himmelhohen Kirchturm überragt wurde. Dahinter stiegen dunkel die Waldberge bis in die Wolken. Der Gedanke, dort hinaufzumüssen, konnte einen fast schwindelig machen.
«Nie und nimmer kommen wir da rüber», jammerte Agnes mit Blick auf den Fluss.
«Dummes Zeug. Augen zu und durch.» Ursel schürzte den Rocksaum und trat näher ans Ufer. Für Reiter und Wagen führte ein matschiger Weg mitten in die dunkelbraunen Fluten, der Holzsteg für die Fußgänger sah nicht viel einladender aus. Seine Balken glänzten feucht, das Geländer, das man an einer Seite angebracht hatte, war an mehreren Stellen durchbrochen.
Die Priorin rief Ursel zurück.
«Wir müssen nicht in Richtung Stadt. Unser Weg führt hier am Fluss längs bis zu dem Seitental dort hinter dem Dorf. Dann sollten wir schon bald bei den Weißfrauen von Guntersthal sein.» Sie sah fragend auf ihren vollbärtigen Begleiter, und der nickte.
«Morgen geht es dann das Haupttal hinauf», wandte er sich an die Frauen. «Wir müssen nur dem Fluss folgen. Freiburg ist zwar eine schöne Stadt, aber wohl doch nicht das Richtige zum Übernachten für fromme Frauen, wie Ihr es seid. Zu viele junge Studenten und andere Tunichtgute.»
Antonia war enttäuscht. Obgleich sie das dörfliche Leben und das freie Land der Stadt immer vorzog, hätte sie Freiburg gern kennengelernt. Hätte wenigstens für ein paar Augenblicke die Menschen bei ihrer Arbeit, beim Einkauf, beim Plaudern am Brunnen beobachtet und sich vorgestellt, was Bernward hier alles erlebt hatte. Verstohlen strich sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
«Weiter geht’s, meine lieben Schwestern.» Camilla von Grüningen klatschte ihrem hellbraunen Zelter die Zügel gegen den Hals, und die müde kleine Karawane setzte sich wieder in Bewegung. Auch Antonia spürte plötzlich, wie ihr die Beine schwer wurden, und freute sich auf eine warme Mahlzeit und ein weiches Bett.
Am nächsten Morgen versammelte sich die Reisegruppe vor dem Klostertor, während die beiden Fuhrknechte körbeweise Proviant auf den Wagen luden und die Guntersthaler Oberin sie mit herzlichen Worten verabschiedete. Dabei nahm sie jede von ihnen in den Arm.
«Gottes Segen möge Euch auf allen Wegen begleiten und Euch gesund und wohlbehalten ans Ziel führen.»
«Und wir danken Euch für Eure Gastfreundschaft, Gott segne Euch», gab die Priorin zurück.
«So ist’s Brauch.» Die dicke Oberin lächelte über ihr ganzes rotwangiges Gesicht. «Wie sprach der Herr? Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen.»
Sie waren am Vortag von den Cistercienserinnen wahrhaft gastlich empfangen worden, hatten mit ihnen gemeinsam im Dormitorium gespeist, während die Lektorin das Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen vorgetragen hatte, in solch schlechtem Latein allerdings, dass niemand ihr zugehört hatte. Innerlich hatte Antonia grinsen müssen: Wie recht hatte doch Mutter Lucia damit, die Tischlesung
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