Die Himmelsleiter (German Edition)
türmen sich die Stufen zu langen Fluchten wie Felsen auf. Insgesamt mögen es ein paar Hundert sein. Ich habe sie nie gezählt. Der Aufgang hat sogar einen richtigen Namen. Unten an der Straße steht ein Hinweisschild mit einem Pfeil: Zur Himmelsleiter .
Bereits nach wenigen H öhenmetern muss ich verschnaufen. Die ersten Schweißtropfen sickern durch mein Hemd. Schon sehe ich die Dächer der Häuser. Bald werden sie schrumpfen, werden ineinander verlaufen wie Farbkleckse. Es ist diesig. Mit jedem Schritt wird der Wald dichter. In den Laubbäumen hängen die letzten Blätter und schillern in den Farben des Herbstes. Die Reben auf den weiter entfernten Hängen sind dunkelrot, violett, blau.
Dann bin ich oben und schaue mich um. Weg und Parkplatz liegen verlassen im Halbdunkel. Noch heftig schnaufend, setze ich mich auf einen gro ßen Sandsteinblock und warte. Die Sonne wärmt mir den Rücken. Lange Lichtfinger fallen schräg durch das Geäst. Alles ist gelblich, bräunlich, golden. Knöchelhoch bedeckt das Laub die Erde. Die Vögel sind verstummt. Selbst das leise Rauschen der vom Wind bestrichenen Baumkronen ist einer vollkommenen Stille gewichen. Die Szene ist wie eingefroren, und auch ich sitze unbeweglich da, als könnte ich sie durch Nichtstun in alle Ewigkeit verlängern.
Dann durchbricht ein entferntes Brummen die Stille. Bewegung kommt auf, so als habe jemand von Standbild auf Play umgeschaltet. Ein unscheinbares Mittelklasseauto rollt im Schritttempo um die Ecke und auf den Parkplatz. Dreißig Meter von mir entfernt bleibt es auf der kleinen Lichtung stehen. Sekundenlang tut sich nichts. Dann öffnet sich die Beifahrertür. Alessandra steigt aus: kurzes, schwarzes Haar, schwach getönte Brille, über der Hose eine Wildlederjacke, die sie offen trägt. Sie steht einen Augenblick da und hebt die Hand wie zum Gruß oder wie jemand, der gegen die Sonne sieht. Ich winke zurück, stehe auf. Vielleicht will ich ihr einige Schritte entgegengehen.
Was dann geschieht dauert wenige Sekunden. Und doch bin ich bis heute nicht in der Lage, den genauen Ablauf zu schildern. Bilder vermischen sich mit Ger üchen, Geräusche kommen hinzu, ohne ihren ursprünglichen Platz wiederzufinden: eine Lautsprecherstimme, Schreie, meine eigenen, zersplitterndes Holz, Glas, dumpfe Einschläge im Fahrzeugblech und vor allem die Schüsse, die zu einem einzigen langen lauten Krachen anschwellen, das mir noch Minuten später in den Ohren dröhnt.
Alessandra steht zwei Met er vom Auto entfernt und feuert in den Wald zu meiner Linken. So wie sie es mir vorgeführt hat, hält sie die Waffe an den ausgestreckten Armen und stemmt sich dem Rückstoß entgegen wie einer Tür, die jemand einzudrücken versucht. Bei jedem Schuss bäumt sich die Pistole in ihren Händen auf.
Ich liege auf dem Boden, etwas Schweres dr ückt mich nieder. Es ist Ernst, dessen Kopf nahe bei meinem ist. Ich rieche seinen Atem, während er immer wieder "Deckung!" schreit "Bleiben Sie um Gottes Willen in Deckung!". Zu dem säuerlichen Geruch, der seinem Mund entströmt, mischt sich der süßliche Duft der feuchten Erde, des zerfallenden Laubes, später der beißende Rauch des Pulvers, der in Schwaden wie Nebel über dem Boden heran kriecht. Etwas knirscht zwischen meinen Zähnen. Es schmeckt bitter. Ich versuche mich loszureißen, um mich zu schlagen.
Alessandra hat aufgeh ört zu schießen. Sie steht unbeweglich neben dem Auto und macht keine Anstalten, das Magazin zu wechseln oder irgendwo Deckung zu suchen. Die Waffe ist wie unter ihrem eigenen Gewicht unmerklich gesunken, bleibt aber auf die unsichtbaren Feinde gerichtet. Um Alessandra herum wachsen Staubfontänen wie Pilze aus dem Boden, Äste und Blätter gehen auf sie nieder. Von überallher wird geschossen. Aus und unter dem Auto. Aus dem Wald. Einzelne leuchtend orangene Blitze und lange grelle Salven, weiß wie elektrische Entladungen. Das Auto schüttelt sich unter der Wucht der Einschüsse, als seien es Tritte.
Dann ist es vorbei. Die Lautsprecherstimme br üllt. Die Männer des Sondereinsatzkommandos strömen aus dem Wald. Plötzlich wimmelt er von Menschen. Halb auf dem Boden liegend, klammere ich mich an meinem Stein wie ein Ertrinkender an einer Boje. Meine Oberschenkel sind zwei kalte Fleischklumpen, auf die ich keinen Einfluss habe. Rötlicher Sand rieselt mir durch die Finger.
Ernst kommt zur ück und hilft mir auf. Aus der Innentasche seines Trenchs fördert er einen silbrig glänzenden Flachmann
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