Die Himmelsleiter (German Edition)
zutage und flößt mir ein paar Schlucke Weinbrand ein. Dann trinkt er selbst. "Warum hat sie geschossen? Warum um Gottes Willen hat sie nur geschossen?" fragt er fassungslos und sieht mich dabei an, als wüsste allein ich eine Antwort. Müde und von den Ereignissen gezeichnet wirkt er viel menschlicher als bei unseren bisherigen Begegnungen. Dann verdrängt Besorgnis die Betroffenheit aus seinem Gesicht. "Ist mit Ihnen alles in Ordnung?" Seine Hand geht zu meiner Schulter, sinkt aber im letzten Augenblick, ohne mich zu berühren. Aus dem Wald werden zwei verletzte Beamte herausgetragen. "Machen Sie sich keine Vorwürfe. Es ist nicht Ihre Schuld." Er schluckt. "Wir beide wissen, dass es nicht Ihre Schuld ist." Er tastet sich ab, als wolle er sich vergewissern, dass er selbst unverletzt sei. Schließlich findet er seine Zigaretten. "Glauben Sie mir, das hat niemand gewollt." Er schüttelt bekümmert den Kopf und zündet sich eine an. Mehr zu sich murmelt er: "Es ist vorbei. Es ist Gott sei Dank vorbei." Dann nimmt er einen tiefen Zug und bläst den Rauch geräuschvoll hinaus. Es klingt wie ein langer Seufzer.
KEIN VERDACHT
Chloé fuhr einen kleinen roten Lancia mit Mailänder Kennzeichen. Bei Brig hatten wir die Autoverladung genommen und waren dann irgendwo zwischen der Cima des Sassone und der Testa del Mater falsch abgebogen. Die Karte lag auf meinen Knien, und so nahm ich bereitwillig die Schuld auf mich. Ein matschiges Sträßchen führte uns ohne große Umwege direkt nach Cannobio an den See. Von dort waren es zwanzig Kilometer bis zu unserem Ziel.
Es dunkelte bereits als wir auf die Uferstra ße einbogen. Der Lago Maggiore lag bleich unter uns. Die Wolken hingen tief, und die Sicht war schlecht, die Straße nass. Wir hatten wenig miteinander gesprochen. Jeder schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Aus den Lautsprechern drang eine düstere Filmmusik, viele Streicher und Bläser, die ein eindringliches Thema variierten. Von Mal zu Mal schwoll es an, und ich meinte, eine fast körperliche Bedrohung zu spüren. Es war, als habe sich ein schweres Gewitter zusammengezogen. Jeden Augenblick konnte es losbrechen.
Am zweiundzwanzigsten hatte Chloé vorgeschlagen, die Feiertage gemeinsam in Locarno zu verbringen. Bis Silvester blieb uns eine gute Woche. Erst dann würden Bell und Montaigne mit ihren Leuten Stellung beziehen. Ich bezweifelte, dass die kunstvolle Falle, die sie in den letzten Tagen gemeinsam ausgeheckt hatten, tatsächlich zuschnappen und uns den großen Unbekannten servieren würde. Die Geschichte schien zu kompliziert, als dass sie in einem einzigen großen Showdown ihren Abschluss finden könnte. Und doch hatte die Vorstellung etwas Tröstliches. Schon zu lange saßen wir an diesem vertrackten Ding, das immer verworrener wurde, je mehr man daran zog und zerrte.
Das kalte Genf bedr ückte mich. Wie ein Geschäft kurz vor Feierabend leerte es sich von Tag zu Tag und wurde immer abweisender und unwirtlicher. Die Fassaden der Häuser hatten sich voll Wasser gesogen; ein dunkles, fast schwarzes Grau, das in langen Zungen unter Balkonen und Fenstersimsen hing und an Ruß erinnerte. Die Mauern glichen gut erhaltenen Ruinen.
Auch mein eigenes kleines Genf war verwaist. Das Europäische Institut war praktisch geschlossen. Eine Notbesetzung kümmerte sich um jene Experimente, die nicht ruhen konnten. Bell war zu einer streng geheimen Klausurtagung nach Los Alamos geflogen. Und auch Montaigne hatte sich mit seiner Frau aufgemacht, um Weihnachten bei der Tochter in Lausanne zu verbringen. Liepmann hatte mich nach Zürich eingeladen, eine nette Geste, mehr nicht. Ich hatte fest damit gerechnet, dass auch Chloé, irgendeiner Verpflichtung oder Laune folgend, verreisen würde, und mich auf ein paar ruhige Tage in Hamburg eingestellt. Es wäre eine Übertreibung, meine halbherzigen Rückfahrtpläne auf etwas wie Heimweh zurückzuführen. Obwohl ich jetzt drei Wochen unterwegs war, drängte es mich nicht nach Hause. Im Dezember hatte Hamburg keine Mühe, Genf an Trostlosigkeit zu übertreffen. Aber es gab ein paar Freunde, die ich gern zwischen den Jahren besucht hätte. Und dann war noch Meike. In den letzten Tagen war mir der Gedanke an sie fast wieder genauso vertraut geworden wie in den langen gemeinsamen Jahren zuvor.
Als Chloé den Vorschlag machte, Weihnachten gemeinsam zu verbringen, war ich zunächst sprachlos. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als ein paar Tage mit ihr, richtige ganze Tage
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