Die Himmelsleiter (German Edition)
Superheld, der ihm auf den Fersen ist, muss mich seinem Willen beugen. Mein ewiger Slalomlauf ist die einzige Gewähr, dass die Bombe Z die Welt verschont.
Fast zwei Jahre lang hatte ich diese Alptr äume. Nacht für Nacht drang die Bombe Z in meinen Schlaf ein wie der Folterknecht in die Zelle. Bald wartete ich auf sie, lag flach atmend da und horchte, oder fiel in einen nur leichten Schlaf, um mich nicht überraschen zu lassen, um schon beim ersten Schritt auf dem Gang, dem Knarren der Tür, dem Klimpern der Schlüssel aufspringen zu können, bereit zu sein. Dann kämpfte ich mit dem namenlosen Schurken um das Schicksal der Welt. Ein ungleicher Kampf, der sich darin erschöpfte, dass ich zwanghaft seinen Launen gehorchte, der Preis, den ich zahlen musste, damit er sein dämonisches Vorhaben ein Weilchen aufschob.
Wenn ich aufwachte, stand ich meistens zitternd neben dem Bett an der Wand gelehnt. Das Licht brannte, und ich versuchte leise zu weinen, um niemanden zu wecken. Nur langsam beruhigte ich mich, z ählte bis hundert, jeden aufdringlichen Gedanken wie eine Wespe verscheuchend. Manchmal schlich ich mich in den Gang hinaus, um dem gleichmäßigen Atmen der Eltern, der Geschwister zu lauschen, mich ihrer Nähe, der Wirklichkeit zu versichern. Niemand erfuhr je etwas davon.
Doch auch diese Wirklichkeit, deren Tr östungen ich nachts suchte, hatte sich verändert. Die Angst war ihrem aus Alptraum und Schlaflosigkeit gezimmerten Verschlag entkommen. Ich begann, an einer regelrechten Angstneurose zu leiden. Auch wenn es tags nicht der verrückte Verbrecher mit der Bombe war, der mich verfolgte, die Thematik war die gleiche geblieben. Ich rechnete jederzeit mit der Explosion einer echten Atombombe. Der Dritte Weltkrieg würde plötzlich und ohne Vorwarnung ausbrechen, würde Stunden dauern, kaum länger. So zuckte ich bei jedem Düsenjäger zusammen, der irgendwo durch die Schallmauer brach, und ein weit entferntes Gewitter mit seinen lautlosen Blitzen ließ meinen Puls hochschnellen. Wenn zweimal im Jahr die Sirenen heulten, war ich davon überzeugt, das sei der geradezu ideale Zeitpunkt, um wirklich anzugreifen. Wo ich ging, suchte ich mit den Augen nach einer geeigneten Deckung, einer Mauer, hinter die ich mich notfalls werfen, einer Vertiefung, über die die Druckwelle hinwegfegen konnte. Trotz allem wollte ich mich nicht einfach in mein Schicksal ergeben.
Im Gegensatz zu meiner n ächtlichen Angst, war jene andere, jene, die mich alltäglich begleitete, viel realer, fast vernünftig. Sie erfüllte mein Leben wie ein gleichmäßiges Hintergrundgeräusch, eines, das umso störender ist, je mehr man darauf achtet, eines, an das man sich aber auch gewöhnen kann. Tatsächlich lernte ich, damit zu leben.
Als es verstummte, bemerkte ich es nicht sofort. Ich fuhr mit den Eltern in die Ferien ans Mittelmeer. In diesem abgelegenen Teil Italiens glaubte ich mich vor russischen und amerikanischen Raketen sicher. Zuerst verlie ßen mich die Alpträume, dann schwand die Angst. Noch misstraute ich diesem neuen Lebensgefühl und schob die wundersame Wendung auf den Urlaub, auf die veränderte Geographie. Doch auch nach meiner Rückkehr in Deutschland blieb es dabei: Die Angst war weg. Es war, als hätte ich in diesen wenigen Wochen das Fürchten verlernt.
Noch einige Jahre lang befiel mich im Herbst ein Gef ühl der Spannung, eine Unruhe, die, hätte ich sie gewähren lassen, gewachsen wäre und schon bald ihre angestammte Gestalt angenommen hätte. Ich wusste, ich musste mein halbzahmes Raubtier früh genug zurückdrängen, musste bis Dezember, Januar, wenigstens bis zum ersten Schnee durchhalten, dann hätte ich ein weiteres Jahr Ruhe.
Die n ächste Krise kam kurz vor dem Abitur. Sie begann Mitte Oktober und dauerte sechs Wochen, die mir rückblickend wie sechs Monate vorkommen. Die altbekannte Angst hatte sich ihrer Kleider entledigt, um mich zu überlisten. Es gab keine Bombe Z mehr, keine drohenden Atomkriege und Raketen. Sie kam nackt, sie hatte den Reinheitsgrad einer chemisch hergestellten Substanz, verzichtete auf Aromen, auf Zusatz- und Füllstoffe - Angst pur, so klar wie Quellwasser. Sie kam nachts. Tagsüber schlief ich ein, wo ich ging und stand. Nachts lag ich wach und las Satiren, alles, was ich zu Hause und in der Leihbücherei auftreiben konnte. Merkwürdigerweise war das das einzige Mittel, meine Angst notdürftig im Zaum zu halten. Noch heute gruseln mich Autoren wie Kishon oder Manzoni mehr, als
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