Die Himmelsmalerin
dass sie über die richtige Konsistenz der Farbe nicht mehr nachdenken musste. Gleichmäßig lasierte sie mit einem breiten Pinsel die Licht- und die Schattenseite der Gewänder und Gesichter, um die Körperlichkeit der Figuren hervorzuheben. Das Schwarzlot hierfür war so dünn angerieben, dass es fast staubig wirkte. Dann drehte sie das Bild vorsichtig auf seine Rückseite und legte eine Vorkontur rund um Figuren, Gegenstände und Tiere an, die ihr helfen sollte, die Kontur auf der Vorderseite sicher und fast ohne abzusetzen zeichnen zu können. Jetzt war es so weit. In eleganten Linien zeichnete sie mit dickflüssigem Schwarzlot die endgültigen Konturen. Für diese Arbeit brauchte man eine ruhige Hand, denn sie ließ sich nur schlecht korrigieren. Und gute Augen, dachte sie bekümmert. Anschließend hielt sie die kleine Scheibe auf ihrer gläsernen Unterlage zum Fenster und überprüfte sie gegen das Licht. Ja, es stimmte, Ochs und Esel brauchten ebenso wie die Menschen noch mehr Helligkeit im Gesicht. Zur Seite hin wischte sie die Schattierung vorsichtig aus, so dass es schien, als würde die Sonne sie von der Seite beleuchten.
Hoch konzentriert legte sie die Konturen von Marias Mantel an, zeichnete den Faltenwurf ein und begann dann, ihr Gesicht zu gestalten. Ich bestimme, welche Laune die Gottesmutter heute hat, dachte sie übermütig. Sicherlich eine gute, wie fast immer. Lena zog die Mundwinkel ein bisschen nach oben. Vielleicht ist sie aber auch müde, so kurz nach der Geburt. Lena betrachtete sie stirnrunzelnd. Egal, es war zu spät, die Madonna lächelte schon und das Christuskind ebenfalls. Ihr habt es sowieso schwer genug, dachte sie, darum dürft ihr bei mir fröhlich sein. Sie zauberte Nachdenklichkeit auf Josefs gerunzelte Stirn und versuchte, die Könige ehrerbietig schauen zu lassen. Aber wie machte man das? Vor lauter Anstrengung stahl sich Lenas Zunge in ihren Mundwinkel. Und dann geschah es doch. Der Pinsel mit dem dicken Schwarzlot rutschte ab und verschmierte das Gesicht vom Kaspar. Wenn es doch der Melchior gewesen wäre, dann hätte sie sein Gesicht so schwarz lassen können! Hektisch begann sie, die Flecken wegzukratzen, und merkte dabei, dass das Glasstück, auf dem sich der Kopf des Königs befand, nicht sauber ausgeschnitten war. Schon wieder ein fehlerhaftes Teil im Glasfenster! Das eine Glasstück würde Vater zwar ersetzen können, aber dennoch traten ihr Tränen in die Augen, als sie sich klarmachte, was solche üblen Schnitzer auf Dauer bedeuteten. Ihr Vater würde den Betrieb nicht mehr lange führen können. Wann würde er Meister Marx, der sein Leben genoss wie die Made im Speck, um Hilfe in der Werkstatt bitten? Damit hätte ihre Mitarbeit sicher ein Ende. Ihr Bräutigam würde nicht billigen, dass seine Aufträge von einer Frau gemalt wurden, die noch nicht einmal einen Gesellenbrief hatte. Und doch bedeutet es mir so viel, dachte sie wehmütig. Jedes Glasbild war wie eine Tür hin zu einer anderen Welt, die so viel größer war als Esslingen.
Das Licht des Tages, das gegen Mittag eine gleichmäßig graue Farbe angenommen hatte, war gar nicht schlecht für die Glasmalerei. Gedämpft drang es ins Zimmer herein. Plötzlich fiel ein Schatten über das Bild. Schnell hob Lena die Augen und erblickte einen dunklen Haarschopf im Fensterviereck. Doch der Beobachter verschwand, bevor sie ihn erkennen konnte. Ihr Herz klopfte bis in den Hals. Johann, der Altgeselle, und die beiden Lehrbuben wussten, was sie tat, und würden sie nicht verpfeifen. Was, wenn es der Tübinger Meister gewesen war? Vielleicht ist es ganz gut so, dachte sie resigniert. Dann hat die Heimlichtuerei ein Ende! Seufzend legte sie das angefangene Glasbild zum Trocknen auf den Tisch. In diesem Moment ruckelte es unwirsch an der Tür.
»Lena«, rief Martha ungeduldig. »Da bist du ja! Du sollst doch den Herren heute Abend aufwarten und musst dich noch herausputzen!«
Lena verdrehte die Augen. Auch das noch.
»Ich komme gleich«, erwiderte sie nach einem kurzen Zögern.
7
Eine halbe Stunde später stand sie vor der Stubentür im dunklen, stillen Gang, einen Krug mit Weißwein in den Händen. Martha hatte nicht lockergelassen, bis Lena, die sich nicht viel aus Äußerlichkeiten machte, ihr bestes blaues Übergewand aus der Truhe gekramt und angezogen hatte. Eigenhändig war sie ihr mit der Bürste durch die Haare gefahren, bis sie glänzten wie Kupfer, und hatte ihr dann einen Kranz aus weißen Astern aufs Haupt
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