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Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Titel: Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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ein winziger Teil in ihr war, der genau das gewollt hätte. Nur hatte sie es bis zu diesem Moment nicht wirklich begriffen. Oder nicht wahrhaben wollen.
    »Die Welt wäre bald ein ziemlich einsamer Ort, wenn wir jedem, der uns einmal gedemütigt oder beleidigt hat, den Tod wünschen und alle diese Wünsche in Erfüllung gehen würden«, fuhr Lea fort. »Ich mag Rahn ebenso wenig wie du, aber das gibt mir nicht das Recht, sein Leben aufs Spiel zu setzen, nur um eines kleinen Vorteils willen. Was hättest du getan, hätte ich deine Lüge geglaubt und ihn zur Rechenschaft gezogen? Hättest du zugesehen, wie ich ihn töte?«
    Arri wusste es nicht. Aber sie fühlte sich zunehmend unwohler. Ihre Mutter hatte vollkommen Recht, mit jedem Wort. Sie hatte so ziemlich alles falsch gemacht, was man nur falsch machen konnte. »Es tut mir Leid«, murmelte sie nur noch einmal.
    »Das hoffe ich«, sagte Lea ernst. »Ich werde dich nicht für das bestrafen, was du getan hast, obwohl du es wahrlich verdient hättest. Aber ich will, dass du darüber nachdenkst. Nicht so sehr über das, was du getan hast, sondern über das, was hätte passieren können. Versprichst du mir das?«
    Arri nickte. Sie meinte es ernst.
    »Gut«, sagte Lea. »Dann ist die Angelegenheit für mich erledigt. Ich werde nie wieder darüber sprechen, es sei denn, du willst es.«
    Sie wandte sich wieder nach vorn, hob die Zügel und ließ die geflochtenen Stricke abermals mit dieser schnappenden Bewegung aus dem Handgelenk heraus knallen. Ein sachter Ruck ging durch den Wagen, als die Pferde rascher ausgriffen und dann wieder in ihre gewohnte, gleichmäßige Geschwindigkeit zurückfielen.
    Wieder fuhren sie eine geraume Weile schweigend dahin. Die Landschaft, durch die das Fuhrwerk rollte, änderte sich jetzt zusehends, aber es fiel Arri sonderbar schwer, sich darauf zu konzentrieren. Ganz gleich, was Lea auch gesagt hatte, es gelang ihr nicht, tatsächlich Verständnis für Rahn aufzubringen oder ihn auch nur als etwas zu sehen, das auch nur entfernt mit einem menschlichen Wesen zu tun hatte, und doch hatten Leas Worte an etwas gerührt, das ihr zu schaffen machte. Der Tod und das Sterben gehörten so selbstverständlich zum Leben der Menschen im Dorf, dass sie eigentlich noch nie bewusst darüber nachgedacht hatte. Und doch glaubte sie plötzlich zu spüren, dass von allen Lektionen, die ihre Mutter ihr in diesem Sommer erteilt hatte, diese eine vielleicht die allerwichtigste gewesen war. Es gab Dinge, mit denen man spielen durfte, und andere, mit denen nicht. Und das Leben eines Menschen - selbst eines solchen, wie Rahn es war - gehörte ganz eindeutig nicht dazu.
    Aber wenn ein Menschenleben so kostbar und wertvoll war, wieso hatte ihre Mutter ihr dann allein in den zurückliegenden beiden Wochen mindestens ein Dutzend Möglichkeiten beigebracht, um es mit einer einzigen Handbewegung auszulöschen?
    »Wir müssen uns bald eine Stelle zum Übernachten suchen«, sagte Lea nach einer Weile. Arri schrak aus ihren Gedanken hoch und sah erst sie an, dann in den Himmel hinauf. Fast wäre sie erschrocken, als sie sah, wie tief die Sonne schon stand, und als hätte es dieses Anblicks bedurft, spürte sie auch plötzlich, wie empfindlich kalt es bereits geworden war. Der wolkenlose, strahlend blaue Himmel und das saftige Grün der Landschaft rund um sie herum vermochten jetzt nicht mehr darüber hinwegzutäuschen, wie nah der Winter bereits war. Nicht mehr lange, und am Morgen würde sich bereits der erste Raureif im Gras zeigen.
    Ohne auf eine Antwort zu warten, deutete Lea mit einer Kopfbewegung auf eine kleine Felsgruppe, nur noch einen guten Steinwurf entfernt. Der Wagen steuerte bereits in gerader Linie darauf zu. »Das da vorn scheint ein günstiger Platz zu sein. Was meinst du?«
    Arri wusste genau, dass ihre Mutter sich längst entschieden hatte; vermutlich schon lange, bevor sie sie überhaupt auf die Felsgruppe aufmerksam gemacht hatte. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie diese Frage vielleicht nur stellte, damit sie sie bejahte, dann aber wurde ihr klar, dass Lea sie einfach auf die Probe stellen wollte. Sie hatte keine wirkliche Lust zu antworten. An diesem Tag war zu viel geschehen, als dass ihr der Sinn noch nach irgendwelchen Spielchen stand. Sie hob nur die Schultern.
    Ihre Mutter bedachte sie mit einem tadelnden Blick, beließ es zu Arris Erleichterung aber dabei und hielt den Wagen an, als sie sich den Felsen bis auf ein paar Schritte genähert

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