Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe
wenig zur Kenntnis nahm, wie sie so tat, als fielen ihr das Getuschel und die verstohlenen Blicke der anderen nicht auf, die sie ihr immer dann zuwarfen, wenn sie glaubten, sie merke es nicht. Bald jedoch verstummten die boshaften Kommentare, und Sarn beließ es dabei, sie mit eisigen Blicken zu messen und die Gaben ihrer Mutter wortlos entgegenzunehmen.
Arri glaubte jedoch nicht, dies könne etwa daran liegen, dass sich Sarns Groll ihrer Mutter und auch ihr gegenüber allmählich legte. Vielmehr verfiel der Schamane immer stärker in einen Zustand vollkommener körperlicher und geistiger Erschöpfung, denn er schien sich vorgenommen zu haben, so lange über Krons Lager zu wachen, bis dieser entweder starb oder die Augen aufschlug. Am Ende des dritten Tages hätte Arri nicht mehr darauf gewettet, welcher der beiden zuerst die beschwerliche Reise in das ewige Reich des Todes antreten würde.
Sie erlebte jedoch noch etwas anderes, was ihr neu und auf erschreckende Weise unangenehm war: Zum allerersten Mal, solange sie sich zurückerinnern konnte, brach ihre Mutter ihr Wort. Sie hatte versprochen, sich selbst um den verletzten Jäger zu kümmern, doch sie verließ ihre Hütte kein einziges Mal, und als Grahl am Mittag des zweiten Tages zu ihr kam und sie bat, sich um seinen Bruder zu kümmern, dessen Zustand sich offenbar dramatisch verschlechtert hatte, schickte sie ihn mit ein paar groben Worten und der Bemerkung fort, dass es nichts in ihrer Macht Stehendes mehr gab, was Sarn und seine Götter, die er ununterbrochen anwimmerte, nicht besser könnten. Arri verstand diese Äußerung ihrer Mutter nicht, auch wenn sie sie kaum noch überraschte. Seit dem Tag, an dem sie den Streit zwischen ihr und Nor belauscht hatte, hatte sich ihre Mutter verändert, und diese Veränderung war weder abgeschlossen, noch war es eine Veränderung zum Guten.
An dem Abend, der der Rückkehr der Jäger folgte, gingen sie nicht wieder hinaus in den Wald, und auch nicht an dem danach, doch in der dritten Nacht wurde Arri von ihrer Mutter weit vor Sonnenaufgang mit den Worten geweckt, dass sie sich nun genug ausgeruht habe und es an der Zeit sei, ihre Ausbildung fortzusetzen. Obwohl Arri noch immer jeder Knochen im Leib wehtat und ihr Muskelkater eher schlimmer als besser geworden war, freute sie sich innerlich darauf, war zugleich aber auch beinahe erschrocken; nach allem, was durch den Angriff auf die Jäger geschehen war und vielleicht noch geschehen würde, kam es ihr irgendwie unangemessen vor, jetzt einfach so weiterzumachen, als wäre nichts passiert; und sie fühlte sich auch ein bisschen schuldig, weil ihr allein der Gedanke, wieder mit ihrer Mutter hinaus in den Wald zu gehen, Freude bereitete, wo doch über das Dorf ein so großes Unglück gekommen war.
Dennoch folgte sie Lea widerspruchslos, als sie sie zu der kleinen Lichtung im Wald führte, in deren Mitte die Quelle entsprang. Dort angekommen, wollte sie den Rock abstreifen und sich nach dem Ast bücken, der noch immer genau dort lag, wo sie ihn fallen gelassen hatte, aber ihre Mutter schüttelte den Kopf und zog einen drei Finger breiten Streifen aus gegerbtem Leder aus dem Ausschnitt ihres Kleides. »Heute üben wir etwas anderes«, sagte sie. »Dreh dich um.«
Arri sah sie verwirrt und auch etwas beunruhigt an, gehorchte dann aber, und ihre Mutter trat hinter sie, verband ihr mit dem Lederstreifen die Augen und knotete ihn nachlässig an ihrem Hinterkopf fest. »Jetzt zähl langsam bis dreißig.«
»Dreißig?«, wiederholte Arri verständnislos.
Ihre Mutter seufzte. »Ja, das habe ich wohl auch versäumt«, murmelte sie. »Also gut: Zähl bis zehn, so weit, wie du Finger an beiden Händen hast, und das dreimal hintereinander. Kannst du das?«
»Natürlich«, antwortete Arri. »Und. dann?«
Darauf bekam sie keine Antwort. Die Schritte ihrer Mutter entfernten sich rasch und waren kurz darauf gar nicht mehr zu hören. Arri bekam es ein bisschen mit der Angst zu tun, beruhigte sich aber selbst damit, dass ihre Mutter schon wissen würde, was sie tat, und zählte schließlich in Gedanken langsam bis zehn und dann noch einmal und noch einmal, bis sie schließlich die Hände hob und den Streifen von ihren Augen riss.
Mit klopfendem Herzen sah sie sich um. Sie war nicht überrascht festzustellen, dass ihre Mutter verschwunden war, aber aus dem unangenehmen Gefühl, das sie die ganze Zeit über gehabt hatte, wurde nun eindeutig Furcht, ganz gleich, wie angestrengt sie auch
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