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Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis

Titel: Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Fahrt hatte sie ihn in ihrer Faust gehalten. Die Schrift auf dem dünnen, gelben Durchschlagpapier war kaum zu erkennen. »Höhenstraße« entzifferte sie. Höhenstraße 5.
    Als sie endlich den Ortseingang von Amorbach erreichten, kurbelte sie ihr Fenster herunter. Wie schön wäre es gewesen, wenn sie die frische Morgenluft hätte genießen können. Sie fragte eine Passantin mit Kinderwagen nach der Adresse. Die Passantin schaute argwöhnisch zwischen ihr, dem Mann mit dem Turban und dem Taxi mit dem Berliner Kennzeichen hin und her, bevor sie den Weg erklärte. Wahrscheinlich glaubte sie, dass der Mann Kyra entführt hatte.
    Statt eines Dankeschöns nickte Kyra nur stumm mit dem Kopf. Wahrscheinlich glaubte die Frau jetzt noch mehr, dass sie gekidnappt war, und würde die Polizei informieren.
    Das Taxameter war schon vor einer ganzen Weile bei DM 999,90 hängen geblieben. Kyra dirigierte den Fahrer um die letzten kostenlosen Ecken. Auch er schien einen Zustand der Erschöpfung erreicht zu haben, der Sprechen nicht mehr zuließ. Er blickte Kyra aus seinen geröteten, vor Müdigkeit tränenden Augen an, als sie ihm auf die Schulter klopfte und sagte, er solle anhalten.

    Wortlos reichte sie ihm die zehn Hundert-Mark-Scheine. Er nahm das Geld, sie warf die Deutschlandkarte auf den Beifahrersitz und stieg aus.
     
    Kyra war enttäuscht. Sie wusste nicht, wie sie sich den ersten Wohnsitz der Herzlosen vorgestellt hatte, aber so gewiss nicht. Es war ein Haus, wie Kinder es malen, wenn man ihnen » Haus !« sagt. Ein schmuckloser, zweigeschossiger Quader mit vier Fenstern nach vorn und einem roten Giebeldach darüber. Blassgelb. Eingang rechts an der Seite. Drumherum bescheidenes Grün. Kein Quadratzentimeter mehr als nötig. Kein grüßender Gartenzwerg. Alles belanglos. Banal.
    Das niedrige Gartentor ließ sich von innen öffnen. »Schröder« stand in Messing eingraviert neben der Klingel. Kyra drehte den Knauf und ging über den gepflasterten Weg zum Eingang. Fünf Stufen zur Tür hinauf. Sie donnerte mit der Faust gegen das Holz. Klingeln schien ihr die verkehrte Einleitung zu sein. Sie donnerte einmal. Zweimal. Dreimal. Viermal. Fünfmal. Sechsmal. Sie trommelte mit beiden Fäusten.
    Nach einer mittleren Ewigkeit wurden hinter der Tür Geräusche laut.
    »Wer ist da?«, fragte eine dünne Stimme. Ob männlich oder weiblich, war unmöglich auszumachen. Alt in jedem Fall.
    »Machen Sie auf, ich weiß, dass dieser kranke Bastard bei Ihnen ist.« Kyra wunderte sich, woher ihre Stimmbänder das Schreien nahmen.
    Auf der anderen Seite der Tür gab es eine längere Pause.
    »Verschwinden Sie, oder ich rufe die Polizei.«
    Kyra lachte. »Polizei ist gut. Polizei ist eine großartige Idee. Fragen Sie mal Nike, was die davon hält.«
    Pause zwei.
    »Verschwinden Sie. Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

    Zur Abwechslung begann Kyra wieder, mit beiden Fäusten gegen die Tür zu trommeln. In den Küchenvorhängen des Nachbarhauses gab es eine sanfte Bewegung.
    »Lassen Sie mich jetzt rein, oder ich mache so lange Krach, bis die Polizei wirklich kommt«, rief Kyra. »Die Bullen in Berlin warten nur darauf, Nike hochzunehmen.«
    Die massive Holztür öffnete sich einen Spalt.
    »Was wollen Sie?«, fragte die Stimme, die Kyra jetzt als männliche Greisenstimme identifizieren konnte.
    Scheiße. Was zum Henker sollte sie mit dem Großvater anfangen. Aber egal. Sie musste da rein. Und wenn es der elende Urgroßonkel war.
    »Öffnen Sie die Tür. Ich weiß, dass Nike da drinnen ist.«
    »Nike ist nicht hier. Nike ist in Berlin.«
    »Irrtum.«
    »Gehen Sie weg.«
    »Lassen Sie mich rein.«
    »Ich sagte Ihnen doch bereits, Nike ist nicht hier.«
    Mit restlicher Kraft warf sich Kyra gegen die Tür. Irgendetwas krachte, noch mehr Rippen oder bloß Holz? Kyra schrie, der alte Mann hinter der Tür schrie, die Tür flog auf, Kyra flog in den Raum, flog über ein Hindernis und landete auf dem Boden.
    Der Großvater, den sie samt Tür hinweggefegt hatte, lag ebenfalls am Boden. Neben ihm ein umgekippter Rollstuhl, dessen Räder sich sinnlos in der Luft drehten. Der weißhaarige Mann musste mindestens achtzig sein.
    Es tat Kyra Leid, einen unschuldigen Greis aus seinem Rollstuhl geworfen zu haben, aber sie hatte jetzt keine Zeit für Pfadfindergeplänkel. Das Einzige, was sie hier finden und erledigen wollte, war dieser kranke Bastard.
    »Komm her«, brüllte sie ins Haus hinein. »Ich weiß, dass du hier bist.«
    Der Greis am Boden wimmerte.

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