Die historischen Romane
gegenüber dem Eingang jenes Raumes. In einem mannshohen Spiegel mit unregelmäßig gewellter Oberfläche erblickte ich unsere Gestalten, grotesk verzerrt und von wechselnder Form und Größe, je nachdem, ob wir vor- oder zurücktraten.
»Du solltest gelegentlich einen Traktat über Optik lesen«, sagte William heiter, »wie es die Gründer dieser Bibliothek zweifelsohne getan haben. Die besten sind auch hier wieder die arabischen. Von Alhazen gibt es einen Traktat De aspectibus, in dem mit genauen geometrischen Demonstrationen die verschiedenen Möglichkeiten der Spiegel dargelegt werden. Je nachdem, wie die Oberfläche geformt ist, können manche Spiegel kleine Dinge vergrößern (und was tun meine Linsen anderes?), manche zeigen die Dinge verkehrt herum oder schief, andere wiederum zeigen alles verdoppelt, zwei Gegenstände statt einem oder vier statt zweien. Andere schließlich, wie dieser hier, machen aus einem Zwerg einen Riesen oder aus einem Riesen einen Zwerg.«
»Jesus Domine Nostrum!« rief ich aus. »Sind das vielleicht die Visionen, die manche in der Bibliothek gesehen haben wollen?«
»Möglich. Die Idee ist jedenfalls genial.« William las die Inschrift über dem Spiegel: »Super thronos viginti quatuor. Das haben wir schon einmal gesehen, aber es war in einem Raum ohne Spiegel. Und dieser hier hat außerdem kein Fenster, aber er ist nicht siebeneckig. Wo sind wir?« Er schaute sich um und trat an einen der Schränke. »Adson, ohne meine verflixten oculi ad legendum kann ich nicht lesen, was auf diesen Büchern steht. Lies mir ein paar Titel vor.«
Ich nahm aufs Geratewohl ein Buch heraus. »Meister, da steht nichts geschrieben.«
»Wieso, ich sehe doch, dass da etwas geschrieben steht, lies es mir vor!«
»Ich lese nichts. Das ist keine Schrift, auch nicht Griechisch, das würde ich erkennen. Das sieht aus wie Würmer, Schlangen, Fliegendreck...«
»Aha, Arabisch! Siehst du noch mehr solche Bücher?«
»Ja, einige. Aber hier ist ein lateinisches, so Gott will. Al... Al Kuwarizmi, Tabulae ...«
»Die astronomischen Tafeln von Al Kuwarizmi, übersetzt von Adelardus de Bath! Ein sehr seltenes Buch. Weiter!«
»Isa ibn Ali, De oculis. Alkindi, De radiis stellatis...«
»Schau jetzt auf dem Tisch, was liegt da?«
Ich trat an den Tisch und schlug einen Folianten auf, er hieß De bestiis . Eine mit feinen Miniaturen versehene Seite zeigte ein prächtiges Einhorn.
»Schöne Arbeit«, kommentierte William, der die Bilder erkennen konnte. »Und dies hier?«
Ich las: »Liber monstrorum de diversis generibus. Auch hier sind schöne Bilder, aber die scheinen mir älter zu sein.«
William beugte sich über das Buch. »Von irischen Mönchen vor mindestens fünfhundert Jahren gemalt. Das Buch mit dem Einhorn ist wesentlich jünger, offenbar in der Manier der Franzosen gestaltet.« Erneut bewunderte ich die große Gelehrtheit meines Meisters. Wir begaben uns in das nächste Zimmer und durchquerten die anschließenden vier Räume. Alle hatten Fenster, und alle waren voller Bücher in unbekannten Sprachen, dazu offenbar einige Texte über okkulte Wissenschaften. Schließlich gelangten wir erneut vor eine türlose Wand, die uns zwang, den Weg zurückzugehen, denn die letzten vier Räume hatten allesamt keine weiteren Türen.
»Aus der Neigung der Wände zu schließen, müssten wir uns in einem der Ecktürme befinden«, sagte William. »Aber es fehlt der siebeneckige Innenraum, vielleicht täusche ich mich.«
»Aber die Fenster«, sagte ich. »Wie kommt es, dass hier so viele Fenster sind? Es können doch unmöglich alle Räume an der Außenwand liegen?«
»Vergiss nicht den Innenhof, viele der Fenster, die wir gesehen haben, gehen zu jenem achteckigen Schacht. Wenn es Tag wäre, könnten wir an den Helligkeitsunterschieden erkennen, welche Fenster nach außen gehen und welche zum Innenhof; vielleicht könnten wir sogar am Stand der Sonne die Lage der Räume erkennen. Aber nachts ist kein Unterschied bemerkbar. Gehen wir zurück.«
Wir kehrten in das Spiegelzimmer zurück und näherten uns der dritten Tür, die wir noch nicht probiert hatten. Vor uns tat sich eine Flucht von mehreren Räumen auf. Aus dem letzten ganz hinten drang ein schwacher Lichtschimmer.
»Da ist jemand«, flüsterte ich erregt.
»Wenn da jemand ist, hat er unser Licht schon bemerkt«, sagte William, hielt aber gleichwohl die Hand vor die Lampe. Wir warteten eine Weile reglos. Das schwache Licht schimmerte weiter, ohne heller oder
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