Die historischen Romane
Verschwiegenheit, aber schließlich gab man zu, dass es sich um Hauptmann Dreyfus handelte.
Sobald Esterházy von Sandherr dazu autorisiert war, informierte er Drumont, woraufhin dieser durch die Redaktionsräume lief und, den Brief des Majors schwenkend, ein ums andere Mal ausrief: »Die Beweise, die Beweise, ich habe die Beweise!«
Am 1. November erschien La Libre Parole mit der Schlagzeile in Riesenlettern »Hochverrat. Jüdischer Offizier A. Dreyfus in Haft!« Die Kampagne hatte begonnen, ganz Frankreich brannte vor Empörung.
Doch am selben Vormittag, während in der Redaktion auf das freudige Ereignis angestoßen wurde, fiel Simoninis Blick zufällig auf den Brief, in dem Esterházy die Verhaftung von Dreyfus mitgeteilt hatte. Er lag auf Drumonts Schreibtisch, befleckt von seinem Champagnerglas, aber noch gut lesbar. Und Simonini, der mehr als eine Stunde damit verbracht hatte, die angebliche Handschrift von Dreyfus zu imitieren, erkannte sofort sonnenklar, dass diese Handschrift, die er so perfekt zu imitieren gelernt hatte, in allem und jedem der von Esterházy glich. Niemand hat ein besseres Gespür für solche Dinge als ein Fälscher.
Was war passiert? Hatte ihm Sandherr statt eines von Dreyfus beschriebenen Blattes eine Schriftprobe von Esterházy gegeben? War das möglich? Bizarr, unerklärlich, aber so muss es gewesen sein. Hatte er es aus Versehen getan? Mit Absicht? Und wenn ja, warum? Oder war Sandherr selbst von einem seiner Untergebenen getäuscht worden, der ihm die falsche Probe gegeben hatte? Wenn Sandherr hintergangen worden war, musste man ihn über die Vertauschung informieren. Aber wenn Sandherr selbst die Proben vertauscht hatte, um Esterházy zu schaden, würde Simonini, wenn er das Opfer informierte, alle Geheimdienste gegen sich haben. Also schweigen? Und was, wenn die Geheimdienste eines Tages ihm die Vertauschung in die Schuhe schieben würden?
Simonini war nicht verantwortlich für den Fehler, das musste er klarstellen, zumal er seit jeher großen Wert darauf legte, dass seine Fälschungen sozusagen authentisch waren. Darum beschloss er, das Risiko zu wagen, und begab sich zu Sandherr, der sich zunächst abweisend zeigte und ihn nicht empfangen wollte, vielleicht weil er einen Erpressungsversuch fürchtete.
Als Simonini ihm dann die Wahrheit eröffnete (die einzige wirkliche übrigens in dieser Geschichte voller Lügen), machte Sandherr, noch erdfahler als gewöhnlich, eine ungläubige Miene.
»Colonel«, sagte Simonini, »Sie werden doch sicher eine photographische Kopie des Bordereau aufbewahrt haben. Besorgen Sie sich Handschriftenproben von Dreyfus und Esterházy, und dann vergleichen wir die drei Texte.«
Sandherr gab ein paar Anweisungen, nach kurzer Zeit hatte er drei Bögen auf dem Schreibtisch, und Simonini machte ihn auf einige Stellen aufmerksam: »Sehen Sie zum Beispiel hier. In allen Wörtern mit zwei s , wie Adresse oder interessant , ist bei Esterházy das erste s etwas kleiner und das zweite etwas größer, und sie sind fast nie verbunden. Das war es, was ich gestern vormittag sofort bemerkte, denn mit diesem Detail hatte ich mich besonders beschäftigt, als ich das Bordereau schrieb. Jetzt sehen Sie sich die Handschrift von Dreyfus an, die ich hier zum ersten Mal sehe. Es ist verblüffend, bei allen Wörtern mit zwei s ist das erste größer und das zweite kleiner, und sie sind immer verbunden. Soll ich fortfahren?«
»Nein, das genügt. Ich weiß nicht, wie es zu dieser Verwechslung gekommen ist, ich werde der Sache nachgehen. Das Problem ist nur, dass sich dieses Dokument mittlerweile in den Händen von General Mercier befindet, der jederzeit den Wunsch haben könnte, es mit einer Handschriftenprobe von Dreyfus zu vergleichen. Allerdings ist er kein Handschriftenexperte, und ein paar Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Handschriften gibt es schon. Er darf nur nicht auf den Gedanken kommen, sich auch eine Handschriftenprobe von Esterházy zu besorgen, aber ich sehe nicht, wieso er ausgerechnet an Esterházy denken sollte – wenn Sie nichts sagen. Also versuchen Sie, die ganze Sache zu vergessen, und bitte kommen Sie nie wieder in diese Büros. Ihre Belohnung wird angemessen erhöht werden.«
Um zu erfahren, wie es weiterging, brauchte Simonini sich nicht mehr an vertrauliche Nachrichten zu halten, denn über den Fall Dreyfus berichteten mittlerweile alle Zeitungen. Auch im Generalstab gab es Leute, die noch eine gewisse Vorsicht walten ließen und
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