Die historischen Romane
französischer Offizier identifiziert, dass er nicht imstande war, die Entscheidungen seiner Vorgesetzten anzuzweifeln, und da sie nun einmal beschlossen hatten, dass er ein Verräter sei, musste er dieses Urteil ohne den Schatten eines Zweifels hinnehmen. Vielleicht fühlte er sich in diesem Moment wirklich als Verräter, und die Beteuerung seiner Unschuld war für ihn nur ein obligater Bestandteil des Rituals.
So glaubte Simonini sich zu erinnern, aber in einer seiner Schachteln fand er einen Zeitungsartikel von einem gewissen Brisson in der République française vom Tag darauf, der das Gegenteil behauptete:
Im selben Augenblick, in dem der General ihm die entehrende Formel ins Gesicht geschleudert hat, hebt er den Arm und ruft: »Es lebe Frankreich, ich bin unschuldig!«
Der Unteroffizier hat seine Aufgabe beendet. Das Gold, das die Uniform geschmückt hatte, liegt am Boden. Man hat ihm nicht einmal die roten Bänder gelassen, das Erkennungszeichen der Waffengattung. In seinem nun vollkommen schwarzen Dolman und mit dem plötzlich verdunkelten Képi sieht Dreyfus aus, als wäre er schon in Sträflingskleidung… Er ruft weiter: »Ich bin unschuldig!« Die Menge hinter der Absperrung, die nur seine dunkle Gestalt sieht, bricht in Beschimpfungen und schrille Pfiffe aus. Dreyfus hört diese Verfluchungen, und seine Wut wird noch erbitterter.
Während er an einer Gruppe von Offizieren vorbeimarschiert, vernimmt er diese Worte: »Judas! Verräter!« Dreyfus fährt wütend herum und wiederholt abermals: »Ich bin unschuldig, ich bin unschuldig!«
Jetzt kann man seine Züge erkennen. Ein paar Sekunden lang fixieren wir ihn in der Hoffnung, eine höhere Offenbarung darin zu erkennen, einen Reflex jener Seele, der sich bisher nur die Richter hatten annähern können, um ihre tiefsten Gründe zu erforschen. Doch was seine Physiognomie beherrscht, ist Zorn, ein bis zum Paroxysmus gesteigerter Zorn. Seine Lippen sind zu einer schrecklichen Grimasse verzerrt, die Augen blutunterlaufen. Und wir begreifen: wenn der Verurteilte so standhaft wirkt und mit einem so martialischen Schritt daherkommt, dann weil er gleichsam von diesem Furor gepeitscht wird, der seine Nerven bis zum Zerreißen spannt…
Was verbirgt sich in der Seele dieses Mannes? Welchen Motiven gehorcht er, wenn er seine Unschuld in dieser Weise beteuert, mit einer so verzweifelten Energie? Hofft er vielleicht, die öffentliche Meinung zu verwirren, Zweifel in uns zu wecken, die Loyalität der Richter, die ihn verurteilt haben, in Verdacht zu ziehen? Ein Gedanke kommt uns, leuchtend wie ein Blitz: Wenn er nicht schuldig wäre, was für eine schreckliche Qual!
Simonini lässt nicht erkennen, dass er irgendeine Qual verspürt hätte, denn dass Dreyfus schuldig war, stand für ihn fest, er hatte es ja selbst mit entschieden. Doch die Kluft zwischen seiner Erinnerung und diesem Artikel zeigte ihm, wie tief diese Affäre ein ganzes Land aufgewühlt hatte und dass jeder darin sah, was er sehen wollte.
Aber sei’s drum, sollte Dreyfus doch zum Teufel gehen, oder zur Insel desselben. Es war nicht mehr seine Sache.
Die Belohnung, die er zu gegebener Zeit diskret bekam, übertraf tatsächlich seine Erwartungen.
Taxil im Auge behalten
Während all dies geschah, behielt Simonini, wie er sich gut erinnert, immer auch Taxils Aktivitäten im Auge. Nicht zuletzt deshalb, weil Taxil ein Dauergesprächsthema in Drumonts Kreisen war, wo man die Taxil-Affäre zunächst mit skeptischem Amüsement und dann mit wutschnaubender Empörung verfolgte. Drumont betrachtete sich als Antifreimaurer, Antisemit und seriöser Katholik – was er auf seine Weise auch war – , und ertrug es nicht, dass seine Sache von einem Filou unterstützt wurde. Dass Taxil ein Filou war, glaubte Drumont schon seit geraumer Zeit, er hatte ihn auch schon in seinem Buch La France Juive angegriffen und darauf hingewiesen, dass alle seine antiklerikalen Bücher von jüdischen Verlegern publiziert worden waren. Aber in diesen Jahren verschlechterten sich ihre Beziehungen aus politischen Gründen noch mehr.
Wie wir bereits von Abbé Dalla Piccola wissen, bewarben sich beide als Kandidaten für einen Sitz im Pariser Stadtrat und zielten auf dieselbe Wählerschaft ab. Daher wurde ihre Schlacht nun öffentlich ausgetragen.
Taxil schrieb ein Pamphlet mit dem Titel Monsieur Drumont, étude psychologique , in dem er einigermaßen sarkastisch den exzessiven Antisemitismus seines Gegners
Weitere Kostenlose Bücher