Die historischen Romane
nach sicheren Beweisen dafür suchten, dass das Bordereau wirklich von Dreyfus stammte. So bat Sandherr einen berühmten Handschriftenexperten, Bertillon, um sein Urteil, und der kam zu dem Schluss, dass die Handschrift des Bordereau nicht wirklich der von Dreyfus gleiche, aber dass es sich um einen evidenten Fall von Selbstfälschung handle: Dreyfus habe seine Handschrift (wenn auch nur teilweise) verändert, um glauben zu machen, dass jemand anders den Brief geschrieben habe. Trotz der vernachlässigenswerten Details stamme das Dokument mit Sicherheit von Dreyfus.
Wer hätte noch wagen können, daran zu zweifeln, während La Libre Parole inzwischen jeden Tag auf die öffentliche Meinung einhämmerte und sogar den Verdacht weckte, dass die Affäre unter den Teppich gekehrt werden könnte, weil Dreyfus Jude war und von den Juden geschützt werde? Es gebe vierzigtausend Offiziere in der Armee, schrieb Drumont, wieso habe Mercier die Geheimnisse der nationalen Verteidigung ausgerechnet einem elsässisch-jüdischen Kosmopoliten anvertraut? Mercier war ein Liberaler, den Drumont und die nationalistische Presse schon seit langem unter Druck setzten und des Philosemitismus bezichtigten. Er konnte jetzt nicht als Verteidiger eines verräterischen Juden auftreten. Daher war er nicht im geringsten daran interessiert, die Untersuchung versanden zu lassen, im Gegenteil, er zeigte sich sehr aktiv.
Drumont hämmerte weiter: »Lange waren die Juden der Armee fern geblieben, die sich ihre französische Reinheit bewahren konnte. Jetzt, wo sie sich auch in die Armee eingeschlichen haben, werden sie bald die Herren Frankreichs sein, und Rothschild wird sich von ihnen die Mobilisierungspläne geben lassen… Und man kann sich denken, zu welchem Zweck.«
Die Spannung stieg höher und höher. Ein Dragonerhauptmann Crémieu-Foa schrieb an Drumont, er beleidige alle jüdischen Offiziere, und verlangte Genugtuung. Die beiden schlugen sich, und um die Konfusion noch zu erhöhen, voilà, wer kam als Crémieu-Foas Sekundant? Major Esterházy… Der Marquis de Morès aus der Redaktion der Libre Parole forderte seinerseits Crémieu-Foa zum Duell, aber die Vorgesetzten des Offiziers untersagten ihm die Teilnahme an einem erneuten Duell und sperrten ihn in die Kaserne ein. An seiner Stelle erschien ein Hauptmann Mayer, der an einem Lungendurchschuss starb. Hitzige Debatten, Proteste gegen dieses Wiederaufflammen der Religionskriege… Und Simonini betrachtete hingerissen die Ergebnisse einer einzigen Stunde seiner Arbeit als Schreiber.
Im Dezember wurde der Kriegsrat einberufen, und in der Zwischenzeit war ein weiteres Dokument aufgetaucht, ein Brief des italienischen Militärattachés Panizzardi an die Deutschen, in dem »diese Kanaille D.« erwähnt wurde, die ihm die Pläne einiger Festungsanlagen verkauft habe. War »D.« als Dreyfus zu lesen? Niemand wagte daran zu zweifeln, und erst später sollte man entdecken, dass ein gewisser Dubois gemeint war, ein Angestellter des Ministeriums, der Informationen für zehn Francs pro Stück verkaufte. Zu spät, am 22. Dezember wurde Dreyfus für schuldig befunden, und am 5. Januar 1895 wurde er in der École Militaire degradiert. Im Februar sollte er dann auf die Teufelsinsel deportiert werden.
Simonini hatte sich die Degradierungszeremonie angesehen und beschreibt sie in seinem Tagebuch als überaus eindrucksvoll: Die Truppen an den vier Seiten des weiten Hofes aufgestellt, Dreyfus trifft ein und muss fast einen Kilometer durch dieses Spalier von Tapferen gehen, die ihm, wenngleich mit ungerührter Miene, ihre Verachtung auszudrücken scheinen, General Darras zieht den Säbel, die Fanfare ertönt, Dreyfus in Hauptmannsuniform marschiert auf den General zu, eskortiert von vier Artilleristen unter dem Komando eines Sergeanten, Darras verliest das Degradierungsurteil, ein riesiger Gardefeldwebel mit Federbuschhelm tritt vor den Hauptmann, reißt ihm die Epauletten, die Tressen, die Knöpfe vom Rock, nimmt ihm den Säbel ab, zerbricht ihn auf seinem Knie und wirft die beiden Hälften dem Verräter vor die Füße.
Dreyfus schien ungerührt, und viele Presseberichte wollten später darin ein Zeichen seines Verrats sehen. Simonini glaubte gehört zu haben, dass er im Moment seiner Degradierung »Ich bin unschuldig!« rief, aber gemessen und ohne seine Habachtstellung aufzugeben. Na klar, bemerkte Simonini sarkastisch, der kleine Jude hatte sich so sehr mit seiner (usurpierten) Würde als
Weitere Kostenlose Bücher