Die historischen Romane
ewige Außenseiter wurden sie mit der Transformation identifiziert, die auch ihre Befreiung gebracht hatte: der Säkularisierung, der Demokratisierung, der Aufklärung, die viele von ihnen als Bildungsbürger so enthusiastisch zu eigen machten. Von ihren Feinden wurden sie schon aus antimodernen Reflexen mit der gesichtslosen Macht der »modernen«, industriellen Gesellschaft identifiziert. Den Marxisten konnten sie als kapitalistische Ausbeuter gelten, den Katholiken und Protestanten als Zerstörer der christlichen Zivilisation, den Konservativen als Feinde einer althergekommenen, tugendhaften Welt.
Die »jüdische Weltverschwörung«, die Urahnin von Weltbeherrschungs-Phantasien wie The Matrix , ist die vielleicht verhängnisvollste aller Verschwörungstheorien der Moderne, eine Geschichte, deren Entstehung sich liest wie ein Kriminalroman, denn diese Mär hat ein Gründungsdokument. Zum ersten Mal erschien diese Schrift mit dem Titel Die Protokolle der Weisen von Zion 1905 in Russland. Sie gibt vor, die Gesprächsprotokolle eines Geheimtreffens zwischen jüdischen Verschwörern zu sein, die unter dem Motto »Täuschung und Gewalt« die Unterwerfung der Welt planen und in allen Details diskutieren.
Die Protokolle wurden wohl in Sankt Petersburg gefälscht, wahrscheinlich von Matwei Golowinski, dem Sohn einer aristokratischen Familie und Agent des zaristischen Geheimdienstes Ochrana, der auch einige Zeit in Paris verbracht hatte. Sein Auftraggeber, der Geheimdienstchef Pjotr Ratschkowski, wollte mit diesem Kunstgriff den für russische Verhältnisse allzu liberalen Premierminister Sergej Witte, der mit einer Jüdin verheiratet war, diskreditieren. Der Fälscher Golowinski konnte sich nicht träumen lassen, was für einen enormen Erfolg und Einfluss sein kleines Machwerk haben würde. Noch heute kursiert der Text in verschiedensten Sprachen und Ausgaben, gedruckt und im Internet. Arabische Herrscher nennen ihn als Inspiration für ihre Politik Israel und den Juden im eigenen Land gegenüber, ganz so, wie sich einst die Mörderbanden der Schwarzen Hundert in Russland und die Kommandos der SS darauf beriefen.
Der russische Agent hatte die Geschichte nicht frei erfunden, wenn auch seine Belege nicht Dokumente waren, sondern polemische Romane. Als Vorlagen benutzte er nicht nur eine antijüdische russische Schmähschrift des zum Christentum konvertierten Jakow Aleksandrowitsch Brafmann, sondern auch den 1868 erschienenen antisemitischen Erfolgsroman Biarritz des deutschen Autors Hermann Goedsche, der im Auftrag des preußischen Geheimdienstes Dokumente fälschte und später als Sir John Retcliffe Abenteuerromane schrieb, bevor er sich ganz seinem ideologischen Kampf gegen England und die Juden widmete. Das von Goedsche geschilderte fiktive Treffen von Abgesandten der zwölf Stämme Israels auf einem jüdischen Friedhof in Prag bot dem mutmaßlichen Autor der Protokolle das Handlungsgerüst.
Eine weitere Quelle war eine satirische Erzählung des französischen Schriftstellers Maurice Joly, der in einem Dialog in der Hölle den berüchtigten Staatsphilosophen Machiavelli und den Frühaufklärer Montesquieu zu Wort kommen ließ, ein Text, der mit Judenhass nichts zu tun hatte. Seine Argumente und Strategien der Unterdrückungsherrschaft (er selbst hatte dabei an den autokratischen Napoleon IIII. gedacht) wurden in den Protokollen aber zum thematischen Leitfaden. Es war naheliegend für Golowinski, Jolys Roman zu gebrauchen: Während seiner Pariser Jahre hatte er mit dessen Sohn Charles zusammen bei der Zeitung Le Figaro gearbeitet, und Charles besuchte ihn 1902 in Sankt Petersburg – ein Jahr vor Veröffentlichung der Protokolle.
Nicht nur gegen die Juden richtete sich die ursprüngliche Version der Protokolle. Golowinski und sein Zahlmeister hatten auch die Freimaurer im Visier, denen sie unterstellten, im Namen der Aufklärung die Macht des orthodoxen Zaren zu unterwandern. Auch hier diente Goedsches Verschwörungsphantasie Biarritz als Inspiration, denn der deutsche Autor selbst hatte sich ausführlich in einer Erzählung von Alexandre Dumas père bedient, in der niemand anderes als der geheimnisumwitterte Graf Cagliostro auf eine Gruppe von Freimaurern trifft, die den französischen König stürzen wollen. Freimaurer und Juden waren ideale Ziele, auf die sich auch die abenteuerlichsten Hypothesen projizieren ließen.
Die Kette der literarischen Einflüsse und Assoziationen der Protokolle führt von einem
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