Die historischen Romane
Noch heute steht in den offiziellen Dokumenten des AMORC ( Anticus and Mysticus Ordo Rosae Crucis, dessen reich mit ägyptischer Ikonographie geschmückten Tempel man im kalifornischen San José besichtigen kann), dass die ursprünglichen Dokumente, die den Orden legitimieren, zwar vorhanden seien, aber aus verständlichen Gründen geheim und in unzugänglichen Archiven eingeschlossen bleiben müssten.
Doch uns interessieren hier weniger die heutigen Rosenkreuzer, die Folklore sind, sondern die historischen. Seit dem Erscheinen der beiden Manifeste gab es immer wieder Streitschriften gegen sie, in denen die Bruderschaft angegriffen und mit diversen Vorwürfen überhäuft wurde, besonders dem der Fälschung und der Scharlatanerie. 1623 tauchten in Paris anonyme Plakate auf, die verkündeten, dass die Rosenkreuzer ihren Sitz in die Stadt verlegt hätten, und diese Mitteilung entfesselte wütende Polemiken seitens katholischer ebenso wie libertärer Kreise; das Gerücht, die Rosenkreuzer seien Satansanbeter, wurde in einer anonymen Schrift namens Effroyables pactions faites entre le diable et les prétendus invisibles von 1623 verbreitet. Sogar Descartes, der während einer Deutschlandreise angeblich versucht hatte, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen, wurde bei seiner Rückkehr nach Paris verdächtigt, ein Mitglied der Bruderschaft zu sein, und rettete sich mit einem Meisterstreich: Da die Rosenkreuzer allgemein als unsichtbar galten, ließ er sich bei möglichst vielen öffentlichen Gelegenheiten sehen und entkräftete so das Gerede über ihn, wie Baillet in seiner Vie de Monsieur Descartes erzählt. Ein gewisser Heinrich Neuhaus veröffentlichte zuerst in Danzig auf Lateinisch und dann 1623 in Paris auf Französisch ein Advertissement pieux et utile des frères de la Rose-Croix, in dem er sich fragte, ob es die Rosenkreuzer gebe, wer sie seien, woher sie ihren Namen genommen hätten und zu welchem Zweck sie ihre Existenz öffentlich bekanntgemacht hätten; und er schließt mit dem außerordentlichen Argument: »Gerade dass sie ihre Namen wechseln und verbergen, dass sie ihr Alter verschleiern, dass sie nach eigenem Bekunden daherkommen, ohne sich kenntlich zu machen, erlaubt keinem Logiker zu verneinen, dass sie notwendig in natura existieren müssen.«
Wie man sieht, genügte ein beliebiger Aufruf zu einer spirituellen Reform der Menschheit, um die paradoxesten Reaktionen auszulösen, als hätten alle auf ein entscheidendes Ereignis gewartet.
Jorge Luis Borges erzählt in Tlön, Uqbar, Orbis Tertius von einem unwahrscheinlichen Land, das in einer unauffindbaren Enzyklopädie beschrieben worden sei. Bei den Recherchen über dieses Land ergibt sich durch andere vage Indizien, ausgehend von Texten, die einander gegenseitig plagiieren, dass es sich bei dem gesuchten Land in Wirklichkeit um einen ganzen Planeten handelt, »mit seinen Bauwerken und seinen Kriegen, mit dem Schrecken seiner Mythologien und dem Gemurmel seiner Sprachen, mit seinen Kaisern und seinen Meeren, mit seinen Mineralien und seinen Vögeln und seinen Fischen, mit seiner Algebra und seinem Feuer, mit seinen theologischen und metaphysischen Kontroversen«. Dieses Gebilde ist »das Werk einer Geheimgesellschaft von Astronomen, Biologen, Ingenieuren, Metaphysikern, Dichtern, Chemikern, Algebraikern, Moralisten, Malern und Geometern … unter der Leitung eines im Dunkel gebliebenen Genies«.
Wir haben es mit einer typischen Borges-Erfindung zu tun: der Erfindung einer Erfindung. Aber Borges-Leser wissen, dass er niemals etwas erfunden hat – noch seine paradoxesten Geschichten ergeben sich aus einer Neulektüre der Geschichte. Tatsächlich erklärt Borges an einer bestimmten Stelle, dass eine seiner Quellen ein Werk von Johann Valentin Andreae gewesen sei, der (aber dies habe er nur aus zweiter Hand durch einen Hinweis bei De Quincey erfahren) »die imaginäre Gemeinschaft der Rosenkreuzer beschrieb – die andere daraufhin gründeten, indem sie seinen vorausschauenden Entwurf nachahmten«.
Die Fiktion der Rosenkreuzer hat in der Tat beträchtliche Folgen in der Geschichte gehabt. Das Freimaurertum als symbolische Transformation des realen Maurerwesens (vertreten durch Handwerkerbünde, die sich Begriffe und Zeremonien der alten Kathedralenerbauer über die Jahrhunderte bewahrt hatten) entstand im 18. Jahrhundert durch Initiative einiger englischer Aristokraten. Mit den »Konstitutionen« von Anderson versuchten die Freimaurer sich zu
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