Die historischen Romane
Vorstellung des Begriffes ›Pferd‹ und der Erkenntnis eines einzelnen Pferdes. Und in jedem Falle war mir das, was ich vom Pferd im Allgemeinen wusste, durch eine besondere Spur ins Bewusstsein gerufen worden. Ich war also in diesem Augenblick sozusagen gefangen zwischen der Besonderheit jener Spur und meiner Unkenntnis, die gerade erst angefangen hatte, die noch recht blasse Gestalt einer allgemeinen Vorstellung anzunehmen. Wenn du etwas von Weitem siehst und nicht weißt, was es ist, wirst du dich damit begnügen, es als einen Körper von ungewisser Ausdehnung zu definieren. Bist du näher herangekommen, so wirst du es vielleicht als ein Tier definieren, wenn du auch noch nicht weißt, ob es ein Pferd oder ein Esel ist. Hast du dich ihm noch mehr genähert, so wirst du sagen können, dass es ein Pferd ist, wenn du auch noch nicht weißt, ob es Brunellus oder Favellus ist. Erst wenn du nahe genug herangekommen bist, wirst du erkennen, dass es Brunellus ist (beziehungsweise dieses bestimmte und kein anderes Pferd, wie immer du es nennen willst). Und das ist dann schließlich die volle Erkenntnis, die Wahrnehmung des Einmaligen. So war ich vor einer Stunde noch darauf gefasst, jedem denkbaren Pferd zu begegnen, aber nicht etwa aufgrund der Weiträumigkeit meines Geistes, sondern aufgrund der Beschränktheit meiner Wahrnehmung. Und der Wissensdurst meines Geistes wurde erst in dem Augenblick gestillt, als ich das einzelne Pferd erblickte, das die Mönche am Zügel führten. Da erst wusste ich wirklich, dass meine vorausgegangenen Überlegungen mich der Wahrheit nahegebracht hatten. Die Ideen, mit deren Hilfe ich mir bis zu diesem Moment ein Pferd vorgestellt hatte, das ich noch niemals zuvor gesehen, waren mithin reine Zeichen, wie die Spuren im Schnee nur Zeichen der allgemeinen Idee des Pferdes waren – und Zeichen oder Zeichen von Zeichen benutzen wir nur, solange wir keinen Zugang zu den Dingen selbst haben.«
Schon früher hatte ich William mit großer Skepsis von den allgemeinen Ideen sprechen hören und mit großem Respekt von den einzelnen Dingen. Und damals wie in den folgenden Tagen schien mir, dass diese Neigung sowohl mit seiner britannischen Herkunft als auch mit seinem Franziskanertum zu tun hatte. An diesem Tage jedoch war er zu erschöpft, um sich auf theologische Dispute einzulassen, und so verzog ich mich in meinen Winkel, hüllte mich in meine Decke und versank alsbald in einen tiefen Schlaf.
Wäre jemand hereingekommen, er hätte mich für ein lebloses Bündel halten können. Und das tat denn wohl auch der Abt, als er um die dritte Stunde in unsere Zelle trat, um mit William zu sprechen. So kam es, dass ich unbemerkt ihr erstes Gespräch mit anhören konnte – ohne Arglist und böse Absicht, denn es wäre, nachdem ich nun einmal aufgewacht war, gewiss unhöflicher gewesen, mich dem Besucher plötzlich zu offenbaren, als in Demut still zu verharren, wie ich es tat.
Eintrat also Pater Abbo, der Abt. Er entschuldigte sich für die Störung, erneuerte seinen Willkommensgruß und sagte, er müsse mit William unter vier Augen sprechen über eine sehr ernste Sache.
Zunächst aber wolle er ihn beglückwünschen zu der Geschicklichkeit seines Verhaltens in der Geschichte mit dem Pferd, wie er das bloß angestellt habe, so genaue Angaben über ein Tier zu machen, das er niemals zuvor gesehen. William erklärte ihm knapp und ohne viel Aufhebens seinen Gedankengang, und der Abt zeigte sich aufs Höchste erfreut über so viel Scharfsinn. Freilich habe er auch nichts anderes erwartet von einem Manne, dem der Ruf so großer Klugheit vorangehe. Im Übrigen habe er einen Brief vom Abt in Farfa erhalten, in dem nicht nur von der Mission die Rede sei, mit welcher William vom Kaiser betraut worden (und über die in den nächsten Tagen noch zu sprechen sein werde), sondern auch davon, dass mein kluger Meister in England und Italien als Inquisitor tätig gewesen sei und sich in einer Reihe von Prozessen durch große Klarsicht in Verbindung mit großer Menschlichkeit hervorgetan habe.
»Sehr gefreut hat es mich zu erfahren«, fügte Abbo hinzu, »dass Ihr Euch in zahlreichen Fällen für die Unschuld des Angeklagten entschieden habt. Gewiss glaube ich – und in diesen schlimmen Zeiten mehr denn je – an die Präsenz des Bösen in allen menschlichen Dingen«, und bei diesen Worten blickte er sich unwillkürlich um, als vermutete er den bösen Feind in einem Winkel der Zelle, »aber ich glaube auch, dass der
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