Die historischen Romane
speculum auch jenseits des Spiegels heißen... Aber dann müssten wir erst einmal hinter den Spiegel gelangen, denn er ist sicherlich eine Tür...«
Der Spiegel war höher als ein normaler Mensch und mit Hilfe eines soliden Eichenholzrahmens fest in der Mauer verankert. Wir tasteten ihn von oben bis unten ab, versuchten, unsere Finger, unsere Nägel in den Spalt zwischen Rahmen und Mauer zu schieben, doch er blieb unbeweglich, als sei er selber ein Teil des Mauerwerkes, Stein im Stein.
»Wenn es nicht jenseits ist, könnte es natürlich auch super speculum sein«, murmelte William, hob die Arme, stellte sich auf die Zehenspitzen und ließ die Finger über den oberen Rand des Rahmens gleiten, fand aber nichts als Staub.
»Andererseits«, resignierte er melancholisch, »selbst wenn sich hinter dieser Mauer ein Raum befindet, ist doch das Buch, das wir suchen und das andere so dringend haben wollten, in jedem Fall nicht mehr dort, denn erst hat es Venantius fortgetragen und dann Berengar, wer weiß wohin...«
»Vielleicht hat es Berengar wieder zurückgebracht...«
»Das glaube ich nicht. An jenem Abend waren wir in der Bibliothek, und alles spricht dafür, dass Berengar noch in derselben Nacht, kurz nach seinem Diebstahl, zu Tode gekommen ist. Sonst hätten wir ihm am folgenden Morgen begegnen müssen... Doch wie auch immer, für heute haben wir wohl genug gesehen: Wir wissen jetzt, wo das Finis Africae ist, und wir haben so gut wie alles gefunden, was wir brauchen, um den Plan der Bibliothek zu vervollständigen. Du musst zugeben, die meisten Geheimnisse des Labyrinths sind damit aufgeklärt. Alle, würde ich sagen, bis auf eines. Ich glaube, ein erneutes und gründliches Studium der Aufzeichnungen des Venantius wird mir jetzt mehr weiterhelfen als alles andere. Du siehst, wir sind dem Rätsel des Labyrinths von außen nähergekommen als von innen. Heute Nacht, vor diesen verzerrten Abbildern unserer selbst, werden wir das Problem nicht lösen. Außerdem geht unser Öl zur Neige. Also komm, lass uns rasch die übrigen Teile der Bibliothek erkunden, damit wir unseren Plan vervollständigen können.«
Wir durchquerten weitere Räume und hielten alles, was wir entdeckten, auf meiner Tafel fest. Einige Räume waren ausschließlich mathematischen und astronomischen Werken gewidmet, andere enthielten Manuskripte in aramäischer Schrift, die keiner von uns zu lesen vermochte, oder auch in noch unbekannteren Lettern, womöglich Texte aus Indien. Wir bewegten uns in zwei ineinander verschränkten Zonen, deren Inschriften, richtig zusammengesetzt, die Namen I UDAEA und Aegyptus ergaben... Kurz, und um den Leser nicht mit der Chronik unserer Erkundungen zu ermüden, als wir unseren Plan schließlich in allen Teilen vollendet hatten, überzeugten wir uns davon (und der Leser kann es nun gleichfalls tun, denn ich will ihm den fertigen Plan nicht vorenthalten), dass die Bibliothek tatsächlich nach dem Muster des Weltkreises angelegt war. Im Norden lagen die Zonen ANGLIA und GERMANIA , die sich längs der westlichen Außenwand mit der Zone GALLIA verbanden, um dann am äußersten Westrand in die Zone HIBERNIA zu münden und gen Süden überzugehen in die Zonen ROMA (Paradies lateinischer Klassiker!) und YSPANIA . Tief im Süden (das heißt im Südturm) schloss sich die Zone LEONES an, gefolgt von AEGYPTUS und weiter östlich fortgesetzt von IUDAEA und schließlich FONS ADAE . Zwischen Osten und Norden erstreckte sich längs der Außenwand die Zone ACAIA – eine treffliche Synekdoché , wie mein Meister sich ausdrückte, um das alte Griechenland zu bezeichnen, und tatsächlich fanden wir in jenen Räumen eine Fülle von Werken heidnisch-antiker Dichter und Philosophen .
Die Disposition der Buchstaben innerhalb einer Zone war, gelinde gesagt, recht eigenwillig. Manchmal musste man geradeaus gehen, manchmal rückwärts, manchmal im Kreise, oft diente ein Buchstabe in zwei Wörtern zugleich (und in solchen Fällen hatte dann der betreffende Raum mindestens einen Schrank mit vermischten Werken). Nirgends gab es so etwas wie eine goldene Regel, es handelte sich offenkundig um reine Eselsbrücken, die dem Bibliothekar das Auffinden eines bestimmten Buches erleichtern sollten. Trug ein Buch zum Beispiel die Signatur Quarta Acaiae , so stand es im vierten Raum der Zone ACAIA , wenn man beim ersten mit dem roten A zu zählen begann, und zweifellos wusste der Bibliothekar längst auswendig, wie er dorthin gelangte, sei's auf geraden
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