Die historischen Romane
ausgestatteten Raumes, in welchem er uns empfing, konnte man hinter dem Dach der Kirche den massigen Quader des Aedificiums aufragen sehen.
Der Abt stand vor einem der hohen Spitzbogenfenster und bewunderte ihn gerade.
»Herrliches Bauwerk!« rief er aus und wies mit großer Gebärde hinüber. »Seht, wie es in seinen Proportionen die Goldene Regel aufnimmt, die einst den Bau der Arche beherrschte. Drei Stockwerke übereinander, denn drei ist die Zahl der Dreifaltigkeit, drei Engel besuchten Abraham, drei Tage verbrachte Jonas im Bauche des Wals, drei Tage lag Jesus im Grabe, desgleichen auch Lazarus. Dreimal bat Christus seinen Vater, er möge den Kelch an ihm vorübergehen lassen, dreimal zog er sich zurück, um mit den Aposteln zu beten, dreimal verleugnete Petrus den Herrn, und dreimal zeigte der Auferstandene sich den Seinen. Drei an der Zahl sind die theologalen Tugenden, drei die heiligen Sprachen, drei die Teile der Seele, drei die Klassen verständiger Wesen: Engel, Menschen und Dämonen, drei die Arten des Tones: vox, flatus und pulsus, drei auch die Epochen der Menschheitsgeschichte: vor, während und nach dem Gesetz!«
»Wunderbarer Einklang so vieler mystischer Entsprechungen!« stimmte William zu.
»Doch auch der quadratische Grundriss«, fuhr der Abt fort, »ist reich an geistigen Lehren. Vier an der Zahl sind die Himmelsrichtungen, die Jahreszeiten, die Elemente, die Temperamente, vier sind das Warme, das Kalte, das Feuchte, das Trockene, Geburt, Wachstum, Reife und Alter, die Arten der Lebewesen: am Himmel, auf Erden, in Luft und Wasser, die Grundfarben des Regenbogens und die Zahl der Jahre zwischen zwei Schalttagen.«
»Oh, gewiss«, pflichtete William bei. »Und drei plus vier ergibt sieben, eine mystische Zahl wie keine andere, und drei mal vier ergibt zwölf, die Zahl der Apostel, und zwölf mal zwölf ergibt einhundertvierundvierzig, die Zahl der Erwählten.« Und dieser letzten Bekundung mystischer Kenntnis der kosmischen Zahlenwelt hatte der Abt nichts hinzuzufügen. Was William Gelegenheit gab, zur Sache zu kommen.
»Wir sollten über die jüngsten Ereignisse reden, ich habe lange darüber nachgedacht«, begann er.
Der Abt drehte den Rücken zum Fenster und sah William streng an. »Zu lange, scheint mir. Ich will Euch gestehen, Bruder William, ich hatte mehr von Euch erwartet. Sechs Tage sind nun fast vergangen, seit Ihr hier eingetroffen seid, und in diesen sechs Tagen sind vier Mönche gestorben, zusätzlich zu Adelmus, und zwei wurden von der Inquisition verhaftet (zu Recht, gewiss, aber wir hätten diese Schande vermeiden können, wenn der Inquisitor nicht gezwungen gewesen wäre, sich mit den unaufgeklärten Verbrechen der letzten Tage zu beschäftigen), und das Treffen schließlich, dessen Vermittler ich war, hat eben aufgrund dieser Freveltaten höchst peinliche Resultate erbracht... Ihr werdet zugeben müssen, dass ich mir eine andere Lösung des Falles erhoffen durfte, als ich Euch bat, den Tod des Adelmus zu untersuchen...«
William schwieg verlegen. Der Abt hatte zweifellos recht. Ich erwähnte bereits zu Beginn dieser meiner Erzählung, wie sehr mein Meister es liebte, die anderen mit der Schnelligkeit seiner Deduktionen zu überraschen, und so war es nur logisch, dass er sich in seinem Stolz verletzt fühlte, wenn ihm jemand Langsamkeit vorwarf, noch dazu nicht ohne Grund.
»Ja, es ist wahr«, gab er zu, »ich habe die Erwartungen Eurer Erhabenheit nicht erfüllt, aber ich werde Euch sagen, warum. Diese Verbrechen entspringen nicht irgendeinem Zwist oder Hader zwischen einigen Mönchen, sondern beruhen auf Sachverhalten, die ihrerseits weit zurückreichen in die Geschichte dieser Abtei.«
Der Abt sah William beunruhigt an: »Was wollt Ihr damit sagen? Auch mir ist klar, dass der Schlüssel nicht in der verhängnisvollen Geschichte unseres ehemaligen Cellerars liegt, die sich mit einer anderen nur überschnitten hat. Doch diese andere eben, die ich vielleicht kenne, aber nicht erwähnen darf... diese andere Geschichte, so hoffte ich, würdet Ihr aufklären und mir erzählen können.«
»Ihr denkt an einen Vorfall, den Ihr in der Beichte erfahren habt...« Der Abt sah vage zum Fenster hinaus, und William fuhr fort: »Wenn Euer Hochwürden wissen will, ob ich weiß, ohne es von Euer Hochwürden erfahren zu haben, dass es unsittliche Beziehungen zwischen Berengar und Adelmus gegeben hat sowie zwischen Berengar und Malachias – nun, das weiß hier jeder...«
Der Abt
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