Die historischen Romane
entartet sei durch das Treiben seiner falschen Apostel, von Neuem verkörpern werde auf Erden. Und angesichts der Termine, die Joachim dafür genannt hatte, schien es allen ganz klar, dass er unbewusst vom Orden der Franziskaner gesprochen hatte. Und darüber hatten sich viele Franziskaner sehr gefreut, vielleicht ein wenig zu sehr, jedenfalls kam es dann um die Mitte des letzten Jahrhunderts dazu, dass die gelehrten Doctores der Sorbonne zu Paris die Lehren des Abtes Joachim als Häresie verurteilten. Freilich schien es, dass sie dies hauptsächlich deswegen taten, weil die Franziskaner (und die Dominikaner) zu mächtig zu werden begannen und zu einflussreich in der französischen Universität, weshalb sie als Ketzer beseitigt werden sollten. Was dann allerdings nicht geschah, und das war ein Segen für die Kirche, denn es erlaubte die Verbreitung der Schriften des Thomas von Aquin und des Bonaventura von Bagnoregio, die nun gewiss keine Ketzer waren. Woran man sieht, dass auch in Paris die Ideen verwirrt waren, beziehungsweise dass jemand sie um eigener Ziele willen zu verwirren trachtete. Dies eben ist das Übel, das die Ketzerei dem Volke Christi antut: dass sie die Geister verdunkelt und alle dazu verführt, sich zu Inquisitoren aus Eigennutz zu machen. Und was ich in jenen Tagen in der Abtei miterleben sollte (wovon ich in diesem Buch berichten will), brachte mich zu der Überzeugung, dass es häufig die Inquisitoren sind, das Übel der Ketzerei erzeugen. Nicht nur in dem Sinne, dass sie Ketzer zu sehen meinen, wo gar keine Ketzer sind, sondern dass sie den verderblichen Keim der Häresie mit so großer Vehemenz unterdrücken, dass viele sich dazu getrieben sehen, an ihr teilzuhaben aus Hass gegen die Unterdrücker. Wahrlich, ein circulus vitiosus, den der Teufel ersonnen hat, Gott schütze uns davor!
Doch zurück zur joachimitischen Ketzerei (wenn es denn eine war). Damals predigte in der Toskana ein Franziskaner, Fra Gerhardino von Borgo San , der sich zum Sprachrohr der Prophezeiungen des Joachim machte und damit die Minderen Brüder sehr beeindruckte. So bildete sich unter ihnen eine Gruppe, die starr an der alten Regel festhielt, als der große Bonaventura, der inzwischen ihr Ordensgeneral geworden war, den Orden zu reorganisieren versuchte. Und als dann im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts das Konzil zu Lyon dem Orden der Franziskaner, um ihn vor denen zu retten, die ihn abschaffen wollten, das Eigentum an allen Gütern zugestand, die er im Gebrauch hatte, kam es in den italienischen Marken zu einem Aufstand von Brüdern, die meinten, nun sei der Geist der franziskanischen Regel endgültig verraten worden, denn Franziskaner dürften niemals etwas besitzen, weder als einzelne noch als Konvent noch als Orden. Sie wurden zur Strafe für ihren Aufstand lebenslänglich eingekerkert. Ich glaube nicht, dass sie etwas gepredigt hatten, was im Widerspruch zum Evangelium stand, aber wenn das Eigentumund der Besitz an irdischen Dingen ins Spiel kommt, wird es für die Menschen schwierig, gerecht zu argumentieren. Jahre später, so ist mir erzählt worden, fand dann der neue Ordensgeneral Raimund Gaufredi die Eingekerkerten in Ancona und befreite sie mit den Worten: »Wollte Gott, dass wir alle und der ganze Orden uns befleckt hätten mit dieser Schuld!« Woran man sieht, dass es nicht wahr ist, was die Häretiker sagen, sondern dass es in der Kirche immer noch Männer von großer Tugend gibt.
Einer der Eingekerkerten von Ancona, ein italienischer Bruder namens Angelo Clareno, tat sich alsdann nach seiner Befreiung mit einem provençalischen Franziskaner namens Petrus Johannis Olivi zusammen, der die Prophezeiungen des Joachim in Südfrankreich predigte, und danach mit Ubertin von Casale, und aus dieser Verbindung entstand die Bewegung der Spiritualen. In jenen Jahren kam es dazu, dass ein überaus heiliger Eremit namens Petrus von Murrone den Heiligen Stuhl bestieg, um als Papst Coelestin V. zu regieren, und dieser Papst wurde von den Spiritualen mit großer Freude begrüßt. »Ein Heiliger wird kommen«, war geweissagt worden, »und er wird die Lehren Christi befolgen und wird leben wie ein Engel. Erzittert, verderbte Prälaten!« Aber vielleicht lebte Coelestin allzusehr wie ein Engel, vielleicht waren die Prälaten in seiner Umgebung allzu verderbt, vielleicht ertrug er ganz einfach nicht mehr die Spannungen eines Krieges, der nun schon allzulange zwischen der Kurie und dem Kaiser sowie den anderen
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