Die historischen Romane
interessieren, und er beteiligte sich daran, als konstruierte er eine Kriegsmaschine. Je länger er davon sprach, desto mehr schien es, als verwandelte sich für ihn das Land des Priesters Johannes, gleich dem irdischen Jerusalem, aus einem Wallfahrtsort in ein zu eroberndes Land.
So erinnerte er die Freunde daran, dass der Priester nach dem Fund der Magier noch viel bedeutender geworden war als vorher, er musste sich nun wirklich als rex et sacerdos präsentieren. Als König der Könige musste er eine Residenz haben, neben welcher die der christlichen Herrscher, einschließlich des Basileus der Schismatiker in Konstantinopel, wie Hundehütten erschienen, und als Priester musste er einen Tempel haben, neben dem die Kirchen des Papstes finstere Löcher wären. Er brauchte einen angemessenen Palast.
»Das Modell gibt es«, sagte Boron, »es ist das Himmlische Jerusalem, wie es der Apostel Johannes in der Apokalypse gesehen hat. Die Anlage muss von hohen Mauern umgeben sein, mit zwölf Toren entsprechend den zwölf Stämmen Israels, drei nach Süden, drei nach Westen, drei nach Osten und drei nach Norden ...«
»Hui, hui«, alberte der Poet, »und der Priester geht durch das eine rein und durchs andere raus, und wenn's stürmt, schlagen und klappern sie alle gleichzeitig, stell dir bloß mal vor, wie's da ziehen muss, also ich würde in so einem Palast nicht mal tot sein wollen ...«
»Lass mich weiterreden. Die Grundsteine der Mauern sind aus Jaspis, Saphir, Chalzedon, Smaragd, Sardonyx, Sarder, Chrysolith, Beryll, Topas, Chrysopras, Hyazinth und Amethyst, und die zwölf Tore sind zwölf Perlen, und der Vorplatz ist reines Gold, durchscheinend wie Glas.«
»Nicht schlecht«, sagte Abdul, »aber ich glaube, das Modell muss eher das des Tempels von Jerusalem sein, wie ihn der Prophet Ezechiel beschrieben hat. Kommt morgen mit in die Abtei. Einer der Kanoniker, der hochgelahrte Richard von Sankt Viktor, ist dort auf der Suche nach einer Möglichkeit, den Plan des Tempels zu rekonstruieren, denn der Text des Propheten ist stellenweise unklar.«
»Kyrios Niketas«, sagte Baudolino, »ich weiß nicht, ob du dich je mit den Maßen des Tempels beschäftigt hast.«
»Noch nicht.«
»Tu's nie, man kann dabei den Verstand verlieren. Im ersten Buch der Könige heißt es, der Tempel sei sechzig Ellen lang, zwanzig breit und dreißig hoch, und die Vorhalle sei zwanzig Ellen breit und zehn tief. Im zweiten Buch der Chronik heißt es jedoch, die Vorhalle sei hundertzwanzig Ellen hoch. Mit anderen Worten, bei zwanzig Ellen Breite, zehn Ellen Tiefe und hundertzwanzig Ellen Höhe wäre die Vorhalle nicht nur viermal so hoch wie der ganze Tempel, sondern auch so schmal, dass sie beim geringsten Windstoß zusammenbräche. Richtig verzwickt wird es aber, wenn du die Vision Ezechiels liest. Da stimmt kein einziges Maß, da passt nichts zusammen, weshalb viele fromme Leute betont haben, Ezechiel habe eben eine Vision gehabt, was ein bisschen so ist, als ob man sagte, er habe etwas zu viel getrunken und alles doppelt gesehen. Nicht weiter schlimm, der arme Ezechiel durfte sich auch mal ein bisschen irren, hätte dann nur nicht der erwähnte Richard von Sankt Viktor folgende Überlegung angestellt: Wenn jedes Ding, jede Zahl, jeder Strohhalm in der Bibel eine spirituelle Bedeutung hat, dann muss man sehr genau hinsehen, was sie wortwörtlich sagt, denn für die spirituelle Bedeutung ist es eine Sache, zu sagen, dass etwas drei Ellen lang ist, und eine andere, dass es neun Ellen lang ist, da diese beiden Zahlen verschiedene mystische Werte haben. Du machst dir keine Vorstellung, wie es in Richards Vorlesung über den Tempel zuging. Er hatte das Buch Ezechiel vor Augen und arbeitete mit einer Schnur, um alle Maße zu nehmen. Er zeichnete den Umriss dessen, was Ezechiel beschrieben hatte, dann nahm er Stäbe und Brettchen aus dünnem Holz und schnitt sie zurecht, assistiert von seinen Schülern, und versuchte sie zusammenzufügen mit Leim und Nägeln ... Er wollte den Tempel nachbauen und verkleinerte die Maße proportional, das heißt, wo Ezechiel eine Elle sagte, ließ er einen Fingerbreit schneiden ... Alle naselang brach das Ganze zusammen, Richard schalt seine Helfer, sie hätten nicht richtig festgehalten oder zu wenig Leim genommen, sie rechtfertigten sich, er habe ihnen falsche Maße gegeben. Dann korrigierte sich der Meister und sagte, vielleicht stehe im Text zwar porta , aber gemeint sei sicherlich porticus , also Vorhalle,
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