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Die historischen Romane

Die historischen Romane

Titel: Die historischen Romane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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sonst ergäbe sich ein Tor, das so groß sei wie der ganze Tempel, andere Male überlegte er sich's anders und sagte, wenn zwei Maße nicht zusammenpassten, liege es daran, dass Ezechiel sich das eine Mal auf das Maß des ganzen Gebäudes bezogen habe und das andere Mal nur auf das eines Teils. Oder er habe manchmal, wenn er Elle sagte, die geometrische Elle gemeint, die sechs gewöhnliche Ellen misst. Kurzum, ein paar Tage lang war's ein Vergnügen, dem frommen Mann zuzusehen, wie er sich erboste, und wir prusteten jedes Mal los, wenn der Tempel wieder zusammenbrach. Um es ihn nicht merken zu lassen, taten wir so, als läsen wir etwas vom Boden auf, das uns gerade runtergefallen war, aber dann merkte der Kanonikus, dass uns dauernd irgendwas runterfiel, und da hat er uns rausgeschmissen.«
     
    In den folgenden Tagen regte Abdul an, dass vielleicht, da Ezechiel schließlich einer vom Volke Israel war, jemand von seinen Glaubensbrüdern ein bisschen Licht in die Sache bringen könnte. Und als seine Freunde entrüstet einwandten, man könne sich doch nicht bei der Lektüre der Heiligen Schriften von einem Juden beraten lassen, da bekanntlich diese perfiden Leute den Text der heiligen Bücher entstellten, um jede Bezugnahme auf den kommenden Christus zu tilgen, enthüllte ihnen Abdul, dass einige der größten Pariser Gelehrten sich bisweilen durchaus, wenn auch im Stillen, das Wissen der Rabbiner zunutze machten, zumindest bei Stellen, in denen nicht von der Ankunft des Messias die Rede sei. Wie sich's traf, hatten die Kanoniker von Sankt Viktor gerade in jenen Tagen einen Rabbiner in ihre Abtei eingeladen, den noch jungen, aber schon hochberühmten Solomon von Gerona.
    Natürlich wohnte Solomon nicht in der Abtei, die Kanoniker hatten für ihn ein feuchtes und dunkles Zimmer in einer der finstersten Gassen von Paris gefunden. Er war tatsächlich ein Mann in noch jungen Jahren, obwohl sein hageres Gesicht von Meditation und Studium gezeichnet schien. Er sprach ein gutes Latein, war aber nicht ganz leicht zu verstehen, denn er hatte eine kuriose Eigenart: Er besaß alle Zähne, oben und unten, vom mittleren Schneidezahn bis ganz hinten auf der linken Seite des Mundes, aber keinen einzigen auf der rechten. Obgleich es Vormittag war, zwang ihn die Dunkelheit des Zimmers, beim Schein einer Lampe zu lesen, und als die Besucher eintraten, legte er die Hände auf eine vor ihm liegende Pergamentrolle, wie um sie vor neugierigen Blicken zu schützen – eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme, denn die Rolle war mit hebräischen Lettern beschrieben. Er versuchte sich zu entschuldigen, es sei dies ein Buch, das die Christen zu Recht verabscheuten, das berüchtigte Toledot Jeschu , in dem erzählt werde, dass Jesus der Sohn einer Kurtisane und eines Söldners gewesen sei, eines gewissen Pantera. Aber gerade die Kanoniker von Sankt Viktor hätten ihn gebeten, ihnen einige Seiten daraus zu übersetzen, weil sie sehen wollten, wie weit die Perfidie der Juden gehen könne. Er mache diese Arbeit bereitwillig, denn auch er finde dieses Buch zu streng, da Jesus gewiss ein tugendhafter Mensch gewesen sei, auch wenn er die Schwäche gehabt habe, sich zu Unrecht für den Messias zu halten, aber vielleicht sei er dazu vom Fürsten der Finsternis verführt worden, auch die Evangelien räumten ja ein, dass der Versucher es mehr als einmal bei ihm probiert habe.
    Nach der Form des Tempels gemäß Ezechiels Beschreibung gefragt, lächelte er: »Selbst den aufmerksamsten Kommentatoren des heiligen Textes ist es nicht gelungen, die genaue Form des Tempels zu bestimmen. Auch der große Rabbi Solomon ben Isaak hat eingeräumt, dass man, folgt man dem Buchstaben des Textes, nicht begreift, wo die äußeren nördlichen Räume sind, wo sie im Westen anfangen und wie viele sich von dort aus nach Osten erstrecken und so weiter. Ihr Christen versteht nicht, dass der heilige Text aus einer Stimme hervorgeht. Wenn der Herr, ha-qadosch baruch hu , der Heilige sei gesegnet immerdar, zu seinen Propheten spricht, lässt er sie seine Stimme hören, er lässt sie nicht Figuren sehen, wie es bei euch mit euren bemalten Seiten vorkommt. Gewiss ruft die Stimme Bilder im Herzen des Propheten hervor, aber diese Bilder sind nicht starr, sie zerfließen, sie wechseln die Form je nach der Melodie jener Stimme, und wenn ihr die Worte des Herrn, immerdar gesegnet sei der Heilige, auf Bilder reduzieren wollt, friert ihr jene Stimme ein, als wäre sie frisches Wasser, das

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