Die historischen Romane
guten Zweck lügst.«
Er war ein rüder Mensch, erklärte Baudolino, aber er konnte sehr geschliffen formulieren. »Kannst du verstehen, Kyrios Niketas, was ich damals empfand? Ich wollte nicht, dass er diese Stadt zerstörte, aber ich liebte ihn und wollte seinen Ruhm.«
»Du hättest ihn nur zu überzeugen brauchen«, sagte Niketas, »dass sein Ruhm noch heller strahlen würde, wenn er die Stadt verschonte.«
»Gott segne dich, Kyrios Niketas, du sprichst, als läsest du in meiner damaligen Seele. Genau mit diesem Gedanken im Kopf bin ich im folgenden zwischen Lager und Mauer hin- und hergependelt. Ich hatte mit Friedrich abgesprochen, dass ich Kontakte mit den Einheimischen herstellen sollte, so als wäre ich eine Art Botschafter, aber es war natürlich nicht allen klar, dass ich mich frei bewegen konnte, ohne Verdacht zu erregen. Am Hof gab es Leute, die mich um meine Vertrautheit mit dem Kaiser beneideten, wie der Bischof von Speyer und ein gewisser Graf Ditpold, den alle »die Bischöfin« nannten, vielleicht nur weil er blond und rosig wie ein Mädchen war. Womöglich hatte er gar nichts mit dem Bischof, ja er sprach sogar dauernd von einer gewissen Thekla, die er zu Hause im Norden gelassen habe. Wer weiß ... Er war hübsch, aber zum Glück war er auch dumm. Nun, und genau diese Leute ließen mich, auch dort im Lager, von ihren Spitzeln verfolgen, und dann gingen sie zum Kaiser und erzählten ihm, ich sei in der Nacht zuvor gesehen worden, wie ich zur Stadtmauer geritten sei und mit den Leuten drinnen geredet hätte. Zum Glück schickte der Kaiser sie fort, weil er wusste, dass ich mich bei Tag und nicht in der Nacht zu jener Mauer begab.«
Kurzum, Baudolino begab sich zu jener Mauer, und auch hinein. Das erste Mal war es nicht leicht, denn als er sich dem Tor näherte, hörte er plötzlich Steine pfeifen – ein Zeichen dafür, dass sie in der Stadt anfingen, Pfeile zu sparen und statt dessen Steinschleudern zu benutzen, die sich seit der Zeit Davids als wirksam und billig erwiesen hatten. Er musste in perfektem Frascheta-Dialekt zu ihnen hinaufbrüllen und die unbewaffneten Hände weit schwenken, und zum Glück wurde er endlich von dem Trotti erkannt.
»Oh, Baudolino«, rief der Trotti hinunter. »Kommst du, um dich uns anzuschließen?«
»Spiel nicht den Ahnungslosen, Trotti, du weißt, dass ich auf der anderen Seite bin. Aber ich komme gewiss nicht mit bösen Absichten. Lass mich rein, ich möchte meinen Vater begrüßen. Ich schwöre dir bei der Heiligen Jungfrau, dass ich kein Wort sagen werde über das, was ich sehe.«
»Ich vertraue dir. Macht ihm das Tor auf, he, ihr da, habt ihr verstanden oder seid ihr taub? Das ist ein Freund. Oder quasi. Ich meine, er ist einer der Ihren, der einer der Unseren ist, das heißt einer der Unseren, der auf ihrer Seite ist, also jedenfalls, macht ihm jetzt dieses verdammte Tor auf, oder ich komme runter und mache euch Beine.«
»Schon gut, schon gut«, sagten die Angesprochenen und verdrehten die Augen zum Himmel. »Hier kapiert man ja nie, wer auf dieser und wer auf der anderen Seite ist, erst gestern haben wir diesen Kerl rausgelassen, der wie einer aus Pavia gekleidet war ...«
»Schnauze, du Blödmann!« schrie der Trotti. Und Baudolino feixte: »Haha«, während er hineinritt. »Ihr habt Spione in unser Lager geschickt ... Aber keine Sorge, ich hab's dir versprochen, ich seh nix und hör nix ...«
Und so reitet er in die Stadt hinein, und schon sehen wir ihn, wie er seinen alten Vater umarmt – der noch rüstig und zäh ist, beinahe verjüngt durch das erzwungene Fasten – am Brunnen auf dem kleinen Platz hinter der Mauer. Schon sehen wir Baudolino, wie er vor der Kirche den Ghini und den Scaccabarozzi wieder begrüßt ... Und Baudolino, wie er in der Taverne nach dem Squarciafichi fragt, und die anderen weinen und sagen ihm, dass er einen genuesischen Armbrustbolzen in den Hals gekriegt hat, grad erst beim letzten Sturmangriff, und da weint auch Baudolino, dem Krieg noch nie gefallen hat und jetzt weniger denn je, auch weil er um seinen alten Vater fürchtet ... Und Baudolino auf der schönen großen Piazza, die hell in der Märzsonne daliegt, wie er den Kindern zusieht, die Körbe mit Steinen herbeischleppen, um die Befestigungen zu verstärken, und Krüge mit Wasser für die Verteidiger, und er freut sich über den unbeugsamen Geist, der sich aller Bürger bemächtigt hat ... Und Baudolino, wie er sich fragt, wer all diese Leute sind, die da in
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