Die historischen Romane
geholt, wohin Kyot ihn zurückgestellt hatte, war rasch in die Kammer hinuntergelaufen, hatte einen der Köpfe geöffnet, hatte den Schädel herausgenommen und statt dessen den Gradal hineingetan, hatte den Kopf mit seinem Siegellack aus Kalliupolis wieder versiegelt und zurückgestellt, war unschuldig wie ein Engel zu den anderen zurückgekehrt und hatte auf den rechten Moment gewartet. Als er dann hörte, dass die zum Aufbruch Bereiten die Köpfe untereinander aufteilen wollten, war ihm klar geworden, dass er nicht länger warten konnte.
»Ich muss sagen, Kyrios Niketas, trotz meiner Wut, von dem Kerl überlistet worden zu sein, verspürte ich eine gewisse Erleichterung, und ich glaube, es ging uns allen so. Wir hatten den Schuldigen gefunden, einen Schuft von höchst glaubwürdiger Schuftigkeit, und waren nicht mehr versucht, uns gegenseitig zu verdächtigen. Zosimos' Schurkerei machte uns rasend, aber sie gab uns das wechselseitige Vertrauen zurück. Wir hatten keine Beweise dafür, dass Zosimos, nachdem er den Gradal gestohlen hatte, auch etwas mit Friedrichs Tod zu tun haben sollte, denn in der betreffenden Nacht war er die ganze Zeit an sein Bett gefesselt gewesen, aber das brachte uns auf die Hypothese des Poeten zurück, dass Friedrich womöglich nicht umgebracht worden war.«
Sie versammelten sich, um zu beratschlagen. Vor allem war festzustellen, dass Zosimos – wenn er bei Einbruch der Nacht geflohen war – inzwischen einen Vorsprung von zwölf Stunden hatte. Der Porcelli erinnerte zwar daran, dass sie Pferde hatten und Zosimos nur ein Maultier, aber Baudolino gab zu bedenken, dass ringsum Berge waren, wer weiß bis wohin, und auf Bergpfaden kommen Maultiere schneller voran als Pferde. Kein Gedanke also, ihn einzuholen. Einen halben Tag Vorsprung hatte er, und einen halben Tag würde er auch behalten. Die einzige Möglichkeit war, zu überlegen, in welche Richtung er geflohen war, und dann dieselbe Richtung zu nehmen.
So begann der Poet: »Nach Konstantinopel kann er sich nicht auf den Weg gemacht haben, denn erstens ist dort, mit Isaakios Angelos auf dem Thron, für ihn dicke Luft, und zweitens müsste er durch die Länder der Seldschuken, die wir gerade nach allerlei Misshelligkeiten hinter uns haben, und er weiß sehr wohl, dass sie ihm früher oder später das Fell über die Ohren ziehen würden. Die vernünftigste Hypothese ist, dass er, wo er doch diese Karte kennt, das gleiche will, was auch wir gewollt haben: zum Reich des Priesterkönigs gelangen, sich dort als Abgesandter Friedrichs oder wessen auch immer vorstellen, den Gradal zurückgeben und mit Ehren überhäuft werden. Infolgedessen muss man, um Zosimos wiederzufinden, sich zum Reich des Priesterkönigs aufmachen und ihn unterwegs abfangen. Also los, machen wir uns auf den Weg, fragen wir uns durch, suchen wir nach der Spur eines griechischen Mönches, der schon aus einer Meile Entfernung als solcher zu erkennen ist, lasst mir endlich die Genugtuung, ihn zu erwürgen, und holen wir uns den Gradal zurück.«
»Sehr gut«, sagte Boron, »aber in welche Richtung sollen wir gehen, wo doch nur er die Karte kennt?«
»Freunde«, sagte Baudolino, »hier kommt uns Ardzrouni von neuem zugute. Er kennt die Orte, und außerdem sind wir jetzt nur noch elf, und wir brauchen auf jeden Fall einen zwölften König.«
So wurde Ardzrouni feierlich und zu seiner großen Erleichterung in die Gruppe der zwölf Verwegenen aufgenommen. Über den einzuschlagenden Weg wusste er sehr vernünftige Dinge zu sagen: Wenn das Reich des Priesterkönigs im Osten lag, unweit des Irdischen Paradieses, musste man sich in Richtung der aufgehenden Sonne bewegen. Aber wenn man geradeaus dorthin ging, lief man Gefahr, durch Länder der Ungläubigen zu kommen, er wisse jedoch eine Möglichkeit, zumindest streckenweise durch Länder zu kommen, die von Christenmenschen bewohnt seien – was auch im Hinblick auf die Täuferköpfe erstrebenswert sei, da man sie schlecht an Türken verkaufen könne. Er versicherte, genauso würde auch Zosimos gedacht haben, und nannte eine Reihe von Ländern und Städten, von denen unsere Freunde noch nie gehört hatten. Mit seinem handwerklichen Geschick fabrizierte er eine Art Popanz, der am Ende tatsächlich ein bisschen wie Zosimos aussah, mit langem Haupthaar und langem struppigem Bart aus geschwärzter Mohrenhirse und zwei schwarzen Steinen an Stelle der Augen. Das Gesicht wirkte fanatisch erregt wie der, den es darstellen sollte.
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