Die historischen Romane
Wurzeln nähren sich in der Erde, der Stamm verdickt sich und überlebt alle Jahreszeiten, während die Zweige dazu neigen, auszutrocknen und zu brechen, die Blätter halten nur wenige Monate und fallen dann ab, die Triebe leben nur ein paar Wochen. Zwischen den Blättern gibt es mehr Leid als im Stamm. Der Baum ist Einer, aber er leidet im Akt seiner Ausdehnung, weil er zu Vielen wird und, während er sich vervielfältigt, an Kraft verliert.«
»Aber das Laub ist schön, du selbst erfreust dich in seinem Schatten ...«
»Siehst du, auch du kannst weise werden, Baudolino! Wenn es dieses Laub nicht gäbe, könnten wir nicht hier sitzen und von Gott reden, wenn es diesen Wald nicht gäbe, wären wir uns nie begegnet, und das wäre das größte aller Übel gewesen.«
Sie sagte das, als ob es die nackte und simple Wahrheit wäre, doch Baudolino fühlte von neuem einen Stich in der Brust, ohne seine Erregung zeigen zu können oder zu wollen.
»Aber dann erkläre mir, wie können die Vielen gut sein, zumindest in gewissem Maße, wenn sie doch eine Krankheit des Einen sind.«
»Siehst du, auch du kannst weise werden, Baudolino! Du hast gesagt, ›in gewissen Maße‹. Trotz des Irrtums der Schöpfung ist ein Teil des Einen und Einzigen in jedem von uns denkenden Kreaturen geblieben und auch in jeder anderen Kreatur, von den Tieren bis zu den toten Körpern. Alles, was uns umgibt, ist von Göttern bewohnt, die Pflanzen, die Samen, die Blumen, die Wurzeln, die Quellen; jede von ihnen, sosehr sie auch daran leidet, eine schlechte Nachahmung der Gedanken Gottes zu sein, möchte nichts anderes, als sich wieder mit ihm vereinen. Wir müssen die Harmonie zwischen den Gegensätzen wiederfinden, wir müssen den Göttern helfen, wir müssen diese Funken zum Leben erwecken, diese Erinnerungen an den Einen und Einzigen, die noch begraben liegen in unseren Seelen und in den Dingen selbst.«
Mindestens zweimal hatte sich Hypatia entschlüpfen lassen, dass sie es schön fand, mit Baudolino zusammen zu sein. Das ermutigte ihn wiederzukommen.
Eines Tages erklärte sie ihm, wie die Hypatien es anstellten, den göttlichen Funken in allen Dingen zu entzünden, damit diese aus Sympathie auf etwas verwiesen, das vollkommener war als sie, nicht direkt auf Gott, aber auf seine minder geschwächten Emanationen. Sie führte ihn an eine Stelle am See, wo Sonnenblumen am Ufer wuchsen, während auf dem Wasser Lotosblumen schwammen.
»Siehst du, was die Sonnenblume macht? Sie dreht sich zur Sonne, sucht sie, folgt ihr und betet zu ihr, und es ist schade, dass du noch nicht das Brausen in der Luft hören kannst, das sie macht, während sie ihre Drehung im Laufe des Tages vollführt. Du würdest gewahr werden, dass sie der Sonne ihren Hymnus singt. Nun sieh dir die Lotosblüte an: Sie öffnet sich beim Aufgang der Sonne, bietet sich ihr in voller Pracht dar, wenn sie mittags im Zenit steht, und schließt sich, wenn die Sonne am Abend geht. Sie lobt die Sonne, indem sie ihre Blätter öffnet und schließt, so wie wir unsere Lippen öffnen und schließen, wenn wir beten. Diese Blumen leben in Sympathie mit dem Himmelskörper, und darum bewahren sie sich einen Teil seiner Kraft. Wenn du auf die Blume einwirkst, wirkst du auf die Sonne ein, wenn du auf die Sonne einzuwirken verstehst, kannst du ihre Wirkung beeinflussen und dich von der Sonne aus mit etwas verbinden, was in Sympathie mit der Sonne lebt und vollkommener ist als sie. Aber das geschieht nicht nur bei den Blumen, es geschieht auch bei den Steinen und bei den Tieren. In jedem von ihnen wohnt ein kleiner Gott, der sich durch die jeweils größeren mit dem gemeinsamen Ursprung zu vereinigen sucht. Wir lernen von Kindheit an eine Kunst auszuüben, die uns erlaubt, auf die größeren Götter einzuwirken und die abgerissene Verbindung wiederherzustellen.«
»Was heißt das?«
»Ganz einfach. Wir lernen, Steine, Kräuter, Aromen zusammenzufügen, die vollkommen und göttergleich sind, um aus ihnen ... wie kann ich dir das erklären ... Gefäße der Sympathie zu bilden, die die Kraft vieler Elemente bündeln und kondensieren. Du musst wissen, eine Blume, ein Stein, sogar ein Einhorn, sie alle haben göttlichen Charakter, aber von allein gelingt es ihnen nicht, die größeren Götter anzurufen. Unsere Mixturen reproduzieren dank der Kunst die Essenz, die wir anrufen wollen, indem sie die Kraft eines jeden Elementes vervielfachen.«
»Und wenn ihr diese größeren Götter angerufen
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